Mehr Straßen wegen mehr Verkehr wegen mehr Straßen

Ich habe zugenommen, wie jedes Jahr. Meine Jacke passt mir schon länger nicht mehr, aber ich mache sie einfach nicht mehr richtig zu. Das ist zwar kalt, aber irgendwie habe ich mich daran gewöhnt. Nun passt mir allerdings meine Hose auch nicht mehr so recht. Schon immer musste ich den Bauch ein bisschen einziehen, jetzt aber so richtig. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die nicht mehr komplett zubekommen kann.

Um bei der Hose ein Unglück zu verhindern, wie bei der Jacke, muss ich nun entschlossen gegensteuern. Es darf nicht sein, dass die Hose nicht mehr zugeht. Und so werde ich morgen in die Stadt fahren und mir neue Hosen kaufen, die groß genug sind. Und ich werde auch direkt schon welche kaufen, die noch eine Nummer größer sind. Mein Bauch wird, wenn man die Entwicklung fortschreibt, nächstes Jahr noch größer werden. Da muss ich jetzt investieren und schon die passenden Hosen kaufen. Bei der Jacke müsste man etwas machen, aber dafür ist kein Geld mehr im Kleidungsbudget übrig, das brauche ich für die Hosen.

Klingt absurd? Das dachte ich mir beim Lesen der Aussagen von Bundesverkehrsminister Wissing ebenfalls. Im verlinkten Artikel wird er zitiert:

Wenn wir auf der Straße nicht ähnliche Zustände wie gerade bei der Schiene erleben wollen, müssen wir auch hier jetzt dringend gegensteuern.

Wir sollen also jetzt massiv die Autobahnen ausbauen, damit Autofahren nicht so nervig wird wie Bahnfahren. Das Problem bei Verkehr ist allerdings, dass mehr Kapazität auch mehr Verkehr anzieht. Wenn sich Fahrten nicht lohnen, weil sie zu lange dauern, dann werden sie halt nicht gemacht. Es gibt eine Motivation lokal einzukaufen, lokal zu arbeiten. Es bleibt dann lokal auch ein Angebot und Sortiment erhalten, das es mit immer größeren Reichweiten dann nicht mehr gibt.

Es sollen jetzt zwar auch die Schienen ausgebaut werden, jedoch sollen wahrscheinlich wieder vor allem die Autobahn ausgebaut werden. Und die Bahn bleibt dann im Vergleich weniger attraktiv. Dadurch konzentriert sich der Verkehr auf der Autobahn. Und daher wird sie weiter ausgebaut. Beim Schienenverkehr nehme ich das so nicht wahr. Als durch das 9-EUR-Ticket der Nahverkehr überlastet war, sprach man eher von zu billigen Tickets als von unzureichender Kapazität und Ausbauplänen.

Wenn man in die USA schaut, so haben die dort ja trotzdem Stau. Gerade in Regionen wie Houston und Washington DC gibt es schon große Autobahnen, aber es hilft trotzdem nichts gegen den Stau. Mehr Kapazität alleine ist nicht die Lösung.

Im Artikel gibt es noch ein Zitat von Bundesverkehrsminister Wissing:

Autofahren bedeutet Freiheit, Flexibilität und Privatsphäre, im ländlichen Raum und im Alter außerdem Teilhabe und Selbstbestimmung.

Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht einfach am Anfang. Also wir haben die »Freiheit«. Das ist natürlich das Markenzeichen der FDP. Allerdings höre ich meist »Egoismus«, wenn die FDP von »Freiheit« spricht. Denn der Preis von Autoverkehr bedeutet Unfreiheit für jene, die gerade nicht im Auto sitzen. Seien es Kinder, die nicht selbst zur Schule gehen können, weil es zu viel Autoverkehr auf ihrem Schulweg gibt. Oder Menschen, die an Durchgangsstraßen wohnen und nachts in Ruhe schlafen wollen.

Bei der Flexibilität mag es stimmen, wenn man an beiden Enden der Fahrt je einen Parkplatz hat. In zentraleren Wohnlagen ohne eigenen Parkplatz ist man mit einem Auto sehr unflexibel, weil man immer eine unwägbare Parkplatzsuche hat. Das mag für viele Menschen kein Problem sein, hat aber auch erhebliche Kosten. Je nach Unzuverlässigkeit der Bahn kann aber auch schon eine längere Parkplatzsuche akzeptabel sein. Generell gilt so grob, dass der ÖPNV umso bessere Abdeckung hat, desto weniger Parkplätze es gibt.

Die Privatsphäre ist so schon korrekt. Ich habe inzwischen immer Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung beim Bahnfahren dabei, es gibt einfach zu viele laute Leute, die ich nicht ertragen will. Gerade auch als Frau mag man sich den Idioten nicht aussetzen. Ein Problem hat die Privatsphäre allerdings, man verliert den Kontakt zu seinen Mitmenschen. Und damit die Polizei dann noch irgendwie ein Gefühl für die Nachbarschaft bekommen kann, muss sie Verkehrskontrollen durchführen, um diese Privatsphäre zu durchbrechen.1 Das hat dann zu diversen weiteren Problemen geführt, mit denen wir uns nun herumschlagen müssen.

Dann zum ländlichen Raum. Hier soll das Auto Teilhabe und Selbstbestimmung bedeuten. Wenn der Bus einmal am Tag kommt, und man ansonsten nicht aus dem Kaff wegkommt, dann ist das beschissen. Und zwar für alle Personen, egal welchen Alters. Das trifft die Teenager, die Erwachsenen und die Senioren gleichermaßen. Die Teilhabe ist somit erschwert, man kommt nicht mehr dorthin, wo etwas passiert. Denn sobald erstmal alle ein Auto haben und für alles das Kaff verlassen, kann sich im Kaff selbst nichts interessantes mehr halten. Es wird ein reiner Schlafort.

Das Problem hierbei ist aber das Alter, das junge und das alte. Alle Personen unter 18 dürfen nicht alleine mit dem Auto fahren. Diese sind somit von der Teilhabe und Selbstbestimmung ausgeschlossen. Wir haben also ein Mobilitätssystem, in dem Teenager systematisch von Teilhabe und Selbstbestimmung ausgeschlossen sind. Wie sich das anfühlt, wenn man als Teenager im ländlichen Raum ohne Auto keinen Anschluss findet, habe ich in den USA erlebt. Das ist etwas, was ich nicht gerne als Grundlage nehmen würde.

Bei den alten Personen ist es ähnlich. Sie verlieren irgendwann die körperlichen und geistigen Voraussetzungen für das Autofahren. Den Bedarf an Mobilität verlieren sie jedoch nicht. Leben sie in einem Umfeld, das ganz auf das Auto ausgerichtet ist, werden sie letztlich zum Weiterfahren gezwungen. Jene Leute spüren aber, dass sie unsicher fahren und meiden daher unbekannte Strecken. Außerdem fahren sie nur noch tagsüber. »Teilhabe« ist das für mich nicht mehr.

Und das bringt uns dann zu der viel besseren Sichtweise auf die steigende Verkehrsmenge, wie sie Katja Diehl stellt:2 »Willst oder musst du autofahren?« Die Menge an Autoverkehr nimmt zu, aber das alleine heißt nicht, dass die Leute das auch so wollen. Und auch nicht, dass wir durch immer mehr Straßen noch mehr Verkehr erzeugen sollen.


  1. Marohn, C. L. Confessions of a Recovering Engineer: Transportation for a Strong Town. (Wiley, 2021). 

  2. . Diehl, K. Autokorrektur: Mobilität für eine lebenswerte Welt. (S. Fischer, 2022).