Gehwege mit Fahrradfreigabe und das Semikolon

Wenn ein Gehweg mit dem Zusatzzeichen 1022-10 (Radverkehr frei) freigegeben ist, darf man dort auch mit dem Fahrrad fahren. So sieht das zum Beispiel in Bonn-Beuel-Ost entlang der Siegburger Straße aus:

Aber wie schnell darf man dort mit dem Fahrrad fahren? Schaut man in StVO Anlage 2, zu Zeichen 239, findet man das hier (Hervorhebung von mir):

Ist durch Zusatzzeichen die Benutzung eines Gehwegs für eine andere Verkehrsart erlaubt, muss diese auf den Fußgängerverkehr Rücksicht nehmen. Der Fußgängerverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, muss der Fahrverkehr warten; er darf nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren.

Wie ist das jetzt zu lesen, ist das eher ein Komma, oder eher ein Punkt? Als Komma bedeutet es, dass man nur wenn nötig mit Schrittgeschwindigkeit fahren muss. Mit Punkt muss man immer Schrittgeschwindigkeit fahren. Und jetzt?

In Recht für Radfahrer1 findet man dazu folgendes:

Wird bei Zeichen 239 Radverkehr ausnahmsweise zugelassen, so darf der Fußgängerverkehr weder gefährdet oder behindert werden (so das Ge- und Verbot zu Zeichen 239; vgl. AG Berlin-Mitte, NJW-RR 2005, 329). Schrittgeschwindigkeit muss deswegen nicht immer gefahren werden. Zu Zeiten erkennbar schwachen Fußgängerverkehrs kann auf solchen Wegen auch mit normalem Fahrradtempo gefahren werden.

Somit scheint die Lesart als Komma die richtige zu sein. Aber das scheint gar nicht eindeutig zu sein, wie man zum Beispiel an dieser Forumsdiskussion sehen kann. Da wird über genau das Semikolon diskutiert.

In einem PDF auf der Webseite der Gemeinde Oberschleißheim, erstellt vom ADFC, steht nichts von einer Einschränkung, es gilt anscheinend immer.

Wenn man sich für den frei gegebenen Gehweg entscheidet, muss man aber mit Schrittgeschwindigkeit fahren.

Der Fuß e.V. schreibt in einem Beitrag zu Radfahren auf Gehwegen in Bezug auf die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen:

„Der Radverkehr darf auf [...] (dem) Gehweg nur Schrittgeschwindigkeit fahren [...], muss dem Fußgängerverkehr Vorrang einräumen.“ (RASt, 6.1.6.4)

Daneben stehen noch Zitate aus der schon von mir zitierten StVO Anlage 2, aus der dann wieder eine Konditionalität steht:

„[...] Fußgänger dürfen weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, müssen Fahrzeugführer warten“ (VwV-StVO Zu Zeichen 239)

Die Polizeidirektion Oldenburg schreibt auch eher etwas mit Konditionalität:

Wer mit dem Rad auf dem Gehweg fährt, muss auf Fußgänger Rücksicht nehmen und darf, wenn erforderlich nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren.

Die Seite Radfahren in Jever steht im Artikel Gehwege mit "Fahrrad frei" sind keine Radwege klar, dass die Schrittgeschwindigkeit immer gilt:

Radfahrende dürfen solche Wege nur mit Schrittgeschwindigkeit und besonders vorsichtig nutzen und gehören lieber auf die Fahrbahn.

Auf der Seite It Started With A Fight wird im Artikel Geschwindigkeit auf Gehwegen auch erstmal das Problem mit dem Semikolon dargestellt, das Buch Recht für Radfahrer zitiert und anschließend die hier im Beitrag noch nicht erwähnte Leitfaden Radverkehr der Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr:

Nicht benutzungspflichtig sind ferner Gehwege, bei denen durch Zusatzzeichen „Radverkehr frei“ das Radfahren, falls notwendig nur mit Schrittgeschwindigkeit, zugelassen ist.

Und auch dort ist es wieder konditional.

Ich habe noch versuche über das Portal dejure.org herauszufinden, ob es dazu Urteile gibt; das scheint aber nicht der Fall zu sein. Als juristischer Laie gehen mir jetzt die Ideen aus.

Insgesamt würde ich daraus schließen, dass man mit dem Fahrrad nicht immer Schrittgeschwindigkeit fahren muss, sondern nur, wenn dies durch die Anwesenheit von Fußgänger*innen nötig ist. So richtig eindeutig ist es aber nicht. Es wäre wünschenswert, wenn in einer Novelle der Straßenverkehrsordnung der fragliche Satz einfach eindeutiger formuliert werden würde.


  1. Kettler, D. Recht für Radfahrer: Ein Rechtsberater. (2014).