Maßnahmenhierarchie im Arbeitsschutz angewandt auf den Verkehr

Würde man die Maßnahmenhierarchie des Arbeitsschutzes auf den Straßenverkehr anwenden, so sähe dieser komplett anders aus.

In seriösen Betrieben ist die Sicherheit der Arbeiter*innen sehr wichtig. Daher gibt es regelmäßig Sicherheitsunterweisungen. Es werden verschiedene Maßnahmen getroffen, um das Arbeitsumfeld möglichst sicher zu gestalten.

Dazu gibt es auch eine Maßnahmenhierarchie, die je nach Herausgeber leicht unterschiedlich ist. Nehmen wir einfach mal die in dem Wikipedia-Artikel gegebene Variante nach der DGUV. Diese sieht diese fünf Stufen vor:

  1. Vermeidung der Gefahr (z. B. Ersetzen eines gefährlichen Arbeitsverfahrens durch ein ungefährliches)
  2. Trennung von Mensch und Gefahr (z. B. durch Kapselung einer gefährlichen Maschine)
  3. Organisatorische Maßnahmen (z. B. zeitliche Begrenzung der Einwirkung einer gefahrbringenden Bedingung; Zugangskontrollen (häufig in Verbindung mit technischen und persönlichen Schutzmaßnahmen) usw.)
  4. Persönliche Schutzausrüstung (z. B. Sicherheitsschuhe, Staubmaske, Handschuhe usw.)
  5. Unterweisungen (dazu gehören neben Schulungen und Belehrungen, auch Schilder und Markierungen, Verbote, Gebote usw.)

Dabei soll man möglichst die Maßnahmen wählen, die ganz oben auf der Liste stehen.

Wenn ich mir überlege, dass in einer Schreinerei eine große Kreissäge steht, mit der man sich potentiell Gliedmaßen abtrennen kann, so braucht es dort einen Schutz. Was könnte man so alles machen?

  1. Man kauft einfach schon fertig geschnittenes Holz.
  2. Die Kreissäge geht nur an, wenn beide Hände auf Schaltern liegen, das Sägegut wird von einem mechanischen Arm geschoben. Oder die ganze Säge wird zusätzlich noch unter einer Plexiglasglocke versteckt.
  3. Während die Säge läuft, darf nur eine Person in dem Raum sein.
  4. Die Schreiner*innen bekommen schnittsichere Handschuhe als Arbeitskleidung.
  5. Man sagt den Leuten, dass die Säge gefährlich ist.

Man kann schon klar erkennen, dass die ersten beiden Maßnahmen die besten sind. Entweder kann man die Säge komplett loswerden, oder man isoliert die Menschen von der Gefahr. Der vierte Punkt wirkt ziemlich absurd. Natürlich helfen solche Handschuhe besser als nichts, eine wirkliche Lösung sind sie aber auch nicht. Und das letzte hilft halt nicht. Man weiß ja, dass eine Kreissäge echt gefährlich ist. Zumindest ich als theoretischer Physiker, der sich laut Experimentalphysiker*innen an scharfen Abbildungen einer Optik schneiden können.

Überträgt man das jetzt aber auf den Straßenverkehr, wird es ernüchternd. Wir haben als grundlegende Gefahr die Autos und LKWs für den Radverkehr. Menschen halten es schlicht nicht aus mit dem Auto überfahren zu werden. Welche Lösungsansätze gibt es nun?

  1. Wir könnten den Autoverkehr aus der Stadt werfen. Lieferverkehr muss dann eben per Lastenrad durchgeführt werden. Die Leute können auch mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren. Man kann natürlich auch argumentieren, dass man alles außer Autofahren verbieten soll. Die USA und Kanada machen das effektiv so.
  2. Wir entschärfen Konfliktstellen, trennen den Radverkehr auf eigene Wege und nutzen das niederländische Schutzkreuzungsprinzip um die Konfliktströme zu trennen. Auto- und Radverkehr bekommt getrennte Ampelphasen.
  3. Lieferverkehr wird nur noch zu gewissen Uhrzeiten zugelassen. Privater Autoverkehr wird stark eingeschränkt, Fahrten von Handwerksbetrieben bleiben erlaubt. Abbiegeassistenten für LKWs würde ich auch noch in diese Kategorie packen.
  4. Wir statten Radfahrende mit Helmen und Warnwesten aus. Radfahrende nutzen laut StVZO nicht zugelassene Blinklichter und zusätzliche Reflektoren, um auf sich aufmerksam zu machen.
  5. In der Grundschule erzählten Verkehrspolizist*innen den jungen Radfahrer*innen wie gefährlich der Autoverkehr ist und dass man lieber auf seine Rechte verzichtet als überfahren zu werden.

Und was machen wir als Gesellschaft? Eher so 4 und 5. Die anderen Dingen stoßen auf ganz viel Widerstand. Entweder ist es zu teuer in der Umsetzung, kostet die armen Autofahrer*innen zu viel Zeit oder andere Dinge.

Nehmen wir mal an, wir würden so noch heute in der Arbeitswelt handeln. Also so, wie halt zu Zeiten vor Arbeitnehmerrechten die Arbeitswelt aussah.

In der Schreinerei steht die Kreissäge frei herum. Es gibt vielleicht eine gestrichelte Linie auf dem Boden, die Arbeitskräfte und Kreissäge trennt. Jeder kann jederzeit die Säge nutzen, auch wenn jemand anderes daneben steht. Wenn mal ein Finger ab ist, dann ist das halt der Preis. Wir haben kein Geld für einen Roboterarm und wir haben auch keine Zeit für so einen Quatsch mit Plexiglasglocke und zwei Schaltern. Wer sich Gliedmaßen abtrennt war halt nicht vorsichtig genug. Und wenn man Angst vor der Säge hat, kann man ja einen Kettenhandschuh tragen.

Würde man heute einen Betrieb so führen wollen, würde hoffentlich der Betriebsrat den Laden auf den Kopf stellen. Im Straßenverkehr haben die Niederländer ähnlich reagiert und mit ihrem Konzept der nachhaltigen Sicherheit ähnlich sinnvolle Maßnahmen getrennt. In Deutschland wollen wir das aber anscheinend nicht. Wir diskutieren über die untersten Stufen der Maßnahmenhierachie um nur ja nicht die Gefahren einschränken zu müssen.