Die Arroganz hinter »Hauptgebäudestudium«

Als ich mit dem Physikstudium angefangen habe, da hatten wir in den ersten Semstern so eine gewisse »Hackordnung« unter den Studiengängen. Damals habe ich mich auch noch dazu verleiten lassen, da ein bisschen zu sehr mitzumachen.

Es gibt einen klassischen Comic, den »Purity« von xkcd. In dem gibt es diese Folge:

  • Eine Soziologin steht ganz links.
  • Ein Psychologe steht rechts daneben und sagt, dass Soziologie doch nur angewandte Psychologie ist.
  • Daneben steht ein Biologe und meint, dass Psychologie wiederum nur angewandte Biologie sei.
  • Die Chemikerin daneben reduziert die Biologie auf angewandte Chemie.
  • Der Physiker steht ganz rechts dieser Gruppe und gibt sich ganz überlegen. Schließlich sei Chemie ja nur angewandte Physik. Somit seien also alle anderen Dinge auch nur angewandte Physik.
  • Ganz rechts im Comic steht noch eine Mathematikerin, die zu der Gruppe rüberwinkt. »Ich hatte euch da hinten gar nicht gesehen«, sagt sie.

Und darüber ist eine Achse mit »Reinheit des Forschungsfeldes«.

Es geht also darum, dass sich die verschiedenen Naturwissenschaften in einer Kette anordnen lassen. Und die Physik gewinnt dabei, ist ganz fundamental. Ohne Physik geht nichts. Aber die Physik braucht nichts sonst. Okay, außer die Mathematik. Aber das ist schon okay, die ist ja eine Strukturwissenschaft und daher orthogonal zur Naturwissenschaft Physik.

Man kann vielleicht diese Arroganz und Überheblichkeit spüren, die dieser Comic darstellen soll. Und ich gehörte auch zu diesen Leuten, die das zwar nicht ausgelebt haben, aber schon irgendwie ein bisschen davon überzeugt waren, dass ihr Studiengang natürlich der beste überhaupt sei.

Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe von Studiengängen, die »noch nicht einmal« Naturwissenschaften sind. Also Linguistik, Jura, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Die sind in Bonn alle im Hauptgebäude, und daher haben manche arroganten Naturwissenschaftler*innen am Campus Poppelsdorf diese Studiengänge abwertend als »Hauptgebäudestudiengänge« bezeichnet.

Nun bin ich über zehn Jahre älter und vielleicht auch in einem der Zeit angemessenen Grad reifer. Ich lese in meiner Freizeit Bücher über Psychologie, Wirtschaft, Finanzen, Rechtsthemen, Stadtentwicklung, Kommunikation. Da habe ich viel gelernt und meinen Horizont erweitert.

Der Kern der Einschätzung war schon korrekt: Chemie ist in der Tat angewandte Physik. Wenn man die Quantenmechanik des Wasserstoffatoms kann, dann sind viele Effekte in der Chemie wenig überraschend. Man kann viel verstehen. Allerdings hören Physiker*innen ganz bewusst bei Wasserstoff auf. Schon Helium mit seinen zwei Elektronen führt zu einem Dreikörperproblem, das man nicht mehr analytisch lösen kann. In der Physik ist das dann uninteressant, weil das Prinzip ja bekannt ist. Aber sich gerade mit diesem Problem zu beschäftigen und zu schauen, welche emergenten (sich herausbildenden) Strukturen es dann gibt, das ist nicht leicht. Das ist aber exakt das, was Chemie ist: Die Beschäftigung mit den emergenten Phänomenen und deren Beschreibung.

Ich könnte als Physiker eine Chemiesimulation schreiben und alle Quanteneffekte versuchen einzubeziehen. Diese Simulation wäre korrekt, auf den fundamentalen Effekten aufbauend. Aber sie wäre total nutzlos, weil sie ihre Ergebnisse nicht in der Sprache der Chemie ausdrückt. Es ist doch egal, wo am Ende welches Molekül gelandet ist. Viel interessanter ist doch, welche chemischen Eigenschaften diese ganzen Reaktionsprodukte haben.

Oder könnte auch versuchen einen ganzen menschlichen Körper zu simulieren. Dafür fehlt zum einen die Rechenkapazität, zum anderen wären die Ergebnisse viel zu kleinteilig. Ich könnte sie nicht sinnvoll beschreiben. Es bräuchte einen Biologen, der sowas die DNA, Zellwand und Zellkern benennt. Ich würde vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.

Noch krasser ist es dann bei Dingen wie Psychologie. Klar basieren Menschen irgendwie auf Physik. Aber ist das hilfreich? Die Psychologie kann doch die Verhaltensweisen von Menschen viel besser beschreiben als ein quantenmechanisches Modell, das die Position von endlos vielen Quantenteilchen beschreibt.

Mit der Zeit habe ich verstanden, dass die Physik in sich auch noch eine Hierachie hat. Man beschäftigt sich mit massiven Körpern wie Billiardkugeln, ohne deren Atome zu betrachten. Man nimmt sie als perfekte Kugeln an, die auf einem reibungsfreien Billiardtisch gleiten. Da nahm ich im ersten Semester keinen Anstoß dran, das macht man so. Aber das ist in keiner Weise »besser« oder »reiner« als das, was man in Chemie oder Medizin macht. Man blendet unnötige Freiheitsgrade aus und konzentriert sich auf die aktuell nützlichen. Das ist die Position, Energie, Geschwindigkeit und Drehimpuls der Billiardkugel. Das sind 10 Zahlen, die zur Beschreibung ausreichen, obwohl sie aus weit mehr als 10 Teilchen besteht.

Genauso macht man es dann weiter. Man schaut sich ganze Moleküle an, danach dann ganze Atome. Dabei ignoriert man den Atomkern, der ist einfach so da in der Mitte. Erst später schaut man in den Atomkern. Und da nimmt man die Protonen und Neutronen dann erstmal als gegeben an. Noch viel später schaut man sich die dann mal an und die Quarks, aus denen sie bestehen. Und die Stringtheorie schaut noch eine Ebene tiefer. Man kann aber auf jeder Ebene etwas sinnvolles machen, weil es immer neue emergente Phänomene gibt, die ganz anders funktionieren, als die Sachen darunter.

Und so habe ich dann auch akzeptiert, dass die anderen Naturwissenschaften genauso komplex sind, nur eben auf einer anderen Energie- oder Größenskala. Dadurch macht es sie nicht weniger anspruchsvoll. Es ist wohl schon korrekt, dass man eine gewisse »Reinheit« bezüglich der Experimente definieren kann. In der Physik kann man problemlos milliardenmal das exakt gleiche Experiment durchführen, im Teilchenbeschleuniger geht das. Aber versuche mal für eine psychologische Studie eine Milliarde blonde männliche Linkshänder zu finden, die gerade 29 Jahre alt sind. Es ist einfach aussichtslos. Und somit ist es nicht verwunderlich, dass man in der Psychologie einfach nicht so genau messen kann, wie in der Physik.

Anders herum kann man sogar sagen, dass die Psychologie anspruchsvoller ist, als die Physik. Die Psychologie hat zwar nicht so komplexe Mathematik wie die Physik, aber es ist viel schwerer Daten zu erheben. Dadurch ist es schwerer fundamentale Zusammenhänge zu ergründen. Die Physik hat einfach den Vorteil, dass man einfacher an Daten kommt und daher konnte sie schneller präzise mathematische Modelle der Wirklichkeit erstellen. Die Psychologie kann das nicht so schnell.

Von daher habe ich inzwischen einfach großen Respekt vor allen anderen Wissenschaften. Ich mag manchmal über die mathematischen Methoden schmunzeln, aber nur weil andere Wissenschaften weniger komplexe mathematische Modelle haben, so haben sie nicht automatisch auch weniger Erkenntnisgewinn, Komplexität oder Nützlichkeit haben. Immer mehr komme ich zu der Schlussfolgerung: Die Welt ist komplex und die Komplexität ist fraktal.