Null Komma Periode Neun
In der Grundschule hatte ich irgendwann von Kommazahlen gehört. Und auch, dass $1/3 = 0{,}\overline 3$ ist. Ich wollte aber partout nicht einsehen, dass $0{,}\overline 9 = 1$ ist. Irgendwann hatte ich es aber eingesehen, und das möchte ich teilen.
Noch ein bisschen mehr zum Hintergrund. Man hat irgendwann Kommazahlen und kann dann einfache Dezimalbrüche wie zum Beispiel $1/2 = 0{,}5$ hinschreiben. Auch $1/8 = 0{,}125$ sind soweit kein Hexenwerk. Wenn ich dann $8 \cdot 0{,}125$ rechne, so erhalte ich exakt $1{,}0$ und die Welt ist in Ordnung.
Wenn man jetzt aber rechnet $1/3 = 0{,}\overline 3$ und anschließend das wieder mal drei nimmt, so hat man $3 \cdot 0{,}\overline 3 = 0{,}\overline 9$. Und das ist doch nicht 1! Oder doch? Meine Lehrer damals haben das so argumentiert, dass sie sich die rechten Seiten angeschaut haben. Da ja $3 \cdot 1/3 = 1$ ist, so muss eben auch $3 \cdot 0{,}\overline 3 = 1$ sein. Irgendwie ist das nachvollziehbar, ich habe das auch als formale Wahrheit akzeptiert, es war mir allerdings nicht intuitiv klar.
Ich habe es damals so gesehen, dass die ganzen Neunen da mit der Zeit erweitert werden. Man hat also 0,9 und dann 0,99; später 0,999 und 0,9999. Schaut man kurz nicht hin, so ist die Zahls chon zu 0,999999 geworden. Sie ist aber nie 1. Das kann man sich durch die Differenzen auch schnell anschauen:
- $1 - 0{,}9 = 0{,}1$
- $1 - 0{,}99 = 0{,}01$
- $1 - 0{,}999 = 0{,}001$
- $1 - 0{,}9999 = 0{,}0001$
Für mich war also klar, dass die Differenz $1 - 0{,}\overline 9$ eben $0{,}\overline 01$ sein muss. Da sind unendlich viele Nullen, danach kommt aber noch eine Eins! Und daher ist diese Differenz eben nicht Null und die beiden Zahlen nicht gleich.
Die Frage habe ich nicht mehr bewusst betrachtet, sie ruhte so in meinem Kopf. Dann habe ich angefangen Physik zu studieren, hatte auch Mathematikvorleseungen. Und im ersten Semester hatten wir in Analysis 1 dann auch die Infinitesimalrechnung, machmal auch »Epsilontik« genannt, wegen dem beständig auftauchenden $\epsilon$.
Man beschäftigt sich dort mit Fragen der Stetigkeit, Differenzierbarkeit und weiteren Konzepten. Aber dem allen zugrunde liegt ein Abstandsbegriff, und das bekamen wir mit der Zeit beigebracht. Eine ganz neue Art über Abstände zwischen Zahlen zu denken, die viel allgemeiner war. Davon möchte ich ein bisschen was darstellen.
Wann sind zwei Zahlen denn gleich? »Naja, wenn sie halt gleich sind«, sagte ich am Anfang des Studiums. Mir wurde dann gezeigt, wie man das besser und präziser ausdrücken kann. Wir brauchen noch das Konstrukt der Folge. Eine mathematische Folge ist eine Folge von Zahlen, die irgendwie einer greifbaren Vorschrift folgt. Ohne Vorschrift ist es etwas sinnlos sich mit ihr zu beschäftigen. Eine solche Folge für die $n$-te Zahl in der Folge könnte sowas sein wie $n^2$. Dann sähe die Folge ab $n = 1$ so aus: $$ 1, 4, 9, 16, 25, \ldots $$
Das ist einfach die Folge der Quadratzahlen. Wir könnten uns noch eine andere Folge anschauen, die als Vorschrift $1/n$ hat. Somit haben wir dann diese Folge: $$ \frac 11, \frac 12, \frac 13, \frac 14, \frac 15, \ldots $$
Nun mag man sich die Frage stellen, was bei $n \to \infty$ passiert. Als, wie von Mathematiker*innen gerne dargestellt, mathematisch eher robust arbeitender Physiker mag man versucht sein, einfach mal $n = \infty$ zu nehmen und das hier hinzuschreiben: $$ \frac 1\infty $$
Das sieht erstmal nicht böse aus. Es ist auch irgendwie klar, dass das 0 sein muss. Aber ist es das wirklich? Wie könnte man es besser machen? In der Mathematik schreibt man das ganze dann so: $$ \lim_{n \to \infty} \frac 1n $$
Ich behaupte jetzt, dass der Grenzwert davon 0 ist. Man zeigt es jetzt per »Epsilontik«: Für jede noch so kleine positive Zahl $\epsilon > 0$ kann ich ein $n$ finden, sodass $1/n < \epsilon$ gilt. Also egal wie nah ich mich an 0 annähern soll. Ich wähle einfach $n > 1/\epsilon$ und erfülle die gegebene Schranke. Mathematisch aufgeschrieben ist es dann so: $$ \forall \epsilon > 0 \colon \exists n \ge 1 \colon 1/n < \epsilon $$
Das ließt man so: Für alle $\epsilon$ größer Null existiert ein $n$ größer gleich 1, sodass $1/n < \epsilon$ gilt. Oder anders formuliert: Zwischen $\lim_{n \to \infty} \frac 1n$ und 0 passt kein Blatt. Das ist die saubere Formulierung davon, dass $1/\infty = 0$ ist.
Genauso kann man es jetzt mit dem $0{,}\overline 9$ machen. Mein junges Ich war nicht davon überzeugt, dass $0{,}\overline 9 = 1$ ist. Wir können das also genauso auch wieder mit der Differenz $1 - 0{,}\overline 9$ und dem $\epsilon$ machen. Man muss einfach genug Neunen hintereinanderpacken, damit kann man dann die Differenz immer unter jedes $\epsilon$ bringen. Egal wie genau man hinschaut, die Differenz kann immer kleiner gemacht werden. Die Differenz ist damit also auch kleiner als jede Genauigkeit.
So in der Art wollten wir das vielleicht auch die Lehrkräfte damals erklären. Und mein jüngeres Ich wollte einfach zu $\epsilon = 0$ »vorspulen« sozusagen. Aber auch das geht nicht. Und so hätte ich früher eben gesagt, dass wenn $\epsilon > 0$ gelten soll, die Differenz ja nie Null wäre und es daher nicht gleich wäre.
Gehen wir nochmal zu den Folgen zurück. Wir können noch eine zweite Folge bauen, die ganz ähnlich ist. Anstelle von $1/n$ nehmen wir aber $-1/n$. Es ist relativ offensichtlich, dass bei $n \to \infty$ das negative Vorzeichen keinen Unterschied macht. Der Grenzwert ist in beiden Folgen 0. Allerdings nähert sich der eine halt von oben, der andere von unten an Null an. Die Folgen haben auch niemals den gleichen Wert, die einen sind strikt positiv, die anderen strikt negativ. Trotzdem ist der Grenzwert gleich, auch wenn beide ihn nie erreichen.
Die Schreibweise mit Periode ist aber ein implizierter Grenzwert. Letztlich ist es die Summe von 9/10, 9/100, 9/1000, 9/10000, …. Von daher gilt dort die ganze Maschinerie mit Grenzwerten und eben auch das $\epsilon$.
Ich könnte auch sagen, dass der Grenzwert von $1/n$ gerade $-1$ wäre. Diesen Wert wird die Folge nie erreichen, wir wissen, dass es nicht stimmt. Aber schreiben wir es auf. Angenommen, es wäre so, dann haben wir $$ \lim_{n \to \infty} \frac 1n = -1 $$
Und wenn ich das mit dem $\epsilon$ schreibe, dann habe ich das hier: $$ \forall \epsilon > 0 \colon \exists n \ge 1 \colon \frac1n + 1 < \epsilon $$
Der Abstand zwischen $1/n$ und $-1$ ist $1/n - (-1)$ und damit dann $1/n + 1$. Daher steht das oben so.
Nun wählen wir zum Beispiel mal $\epsilon = 1/10$, das ist gar kein so kleiner Wert. Existiert denn jetzt dieses $n$, damit das gilt? Schauen wir mal: $$ \frac 1n + 1 < \frac{1}{10} $$ Das löse ich nach $n$ auf und erhalte dann das hier: $$ \frac 1n < \frac1{10} - 1 $$ $$ \frac 1n < - \frac9{10} $$
Egal, welches $n > 0$ ich dort einsetze, ich erhalte immer etwas positives auf der linken Seite. Und etwas positives auf der linken Seite kann nicht kleiner als die negative Zahl auf der rechten Seite sein. Wir können also eben jenes $n$ nicht konstruieren, sobald das $\epsilon$ strenger wird.
Somit haben wir gezeigt, dass der Abstand zwischen dem Grenzwert und $-1$ endlich ist, man ihn also bemessen kann und er von Null verschieden ist. Dieser Abstand ist exakt 1, per Konstruktion. Und hier stößt man mit der $\epsilon$-Methode direkt drauf. Da wir bei 0 aber kein Problem hatten bei jedem $\epsilon$ ein $n$ zu finden, ist der Abstand zwischen Grenzwert und 0 eben null, und somit ist der Grenzwert dann 0.
Genauso ist das bei der Periode im Dezimalbruch. $0{,}\overline 9$ ist von 1 nicht zu unterscheiden und daher eben gleich. Das Problem war nie, dass es nicht gleich ist. Nur dass mein jüngeres Ich ein Konzept von Gleichheit hatte, das für derartige mathematische Fragen nicht hinreichend war. Und somit war es etwas, was meine armen Lehrkräfte damals eben auch nicht lösen konnten, ohne mich erstmal in eine Mathematikvorlesung zu setzen, die ich damals aber nicht hätte verstehen können.