Merkwürdige Sichtweisen zum Bahnstreik

Die EVG befindet sich in Tarifverhandlungen mit der Deutschen Bahn, allerdings findet man keine Einigung. Somit gibt es vielleicht wieder Streik.

Ich schreibe diesen Artikel am Sonntag, den 02.07.2023. Die EVG und die DB wollen ab dem 06.07. ein Schlichtungsverfahren aufnehmen, die Gewerkschaft soll dann über das Schichtungsergebnis abstimmen. Aber vielleicht will die EVG noch am 04.07. streiken, so richtig klar ist mir das gerade nicht.

Um herauszufinden, was passiert, habe ich generell nach Nachrichten zu dem Thema gesucht. Einige der aktuellsten Artikel von von der Bild-Zeitung und von Focus. Aus denen kann man jetzt auch nicht so wirklich etwas herauslesen. Das deutet darauf hin, dass man vielleicht bei der EVG selbst noch gar nicht so exakt weiß, was man machen möchte.

Auch wenn es mich als Bahnkunde trifft, finde ich Streiks und Gewerkschaften eine wunderbare Sache. Die haben uns ganz viele Arbeitnehmerrechte erkämpft, die heute selbstverständlich sind. Urlaub, Gehaltszahlungen bei Krankheit, Kündigungsschutz und so weiter. Auch sorgen sie dafür, dass die Löhne nicht zu sehr stagnieren. Die Arbeitgeber sind häufig die Gegenspieler, entsprechend robust müssen manche Gewerkschaften dann eben auftreten.

In vielen Kommentaren hört man eine Wahrnehmung heraus, bei der die Gewerkschaft allein für den Streik verantwortlich ist. Und weil jemand seine Reise nicht antreten kann, ist die Gewerkschaft daran schuld. Ich sehe das anders: Der Vorstand der Firma kann einfach auf die Forderungen der Gewerkschaft eingehen, der Streik ist dann auch sofort vorbei. Aber das tut der Vorstand nicht, und somit muss die Belegschaft eben Druck aufbauen.

Von der Lektüre der Kommentare bei Bild und Focus kann ich nur abraten, ich habe es wider besseren Wissens trotzdem getan. Und die Kommentare bilden das ab, was ich erwartet habe:

Den einen ist der Streik total egal, weil sie eh immer mit dem Auto fahren. — Ja, schön für dich. Wie gut, dass dein Auto nie Pannen hat, nie durch Schnee nicht fahren kann oder du einfach mal nicht fit genug bist, um mit dem Auto zu fahren. Du trinkst anscheinend auch keinen Alkohol. Und du stehst wohl gerne im Stau einer Großstadt. Ich freue mich für dich.

Dann gibt es noch jene, die wohl eher Langstrecken mit der Bahn fahren. Die verkünden dann eben doch das Flugzeug zu nehmen. Die EVG ist dann eben schuld, wenn dadurch noch mehr CO₂ in die Atmosphäre gepustet wird. — Ich erinnere mich noch an Streiks von diversen im Bereich Luftfahrt beschäftigten Leuten: Pilot*innen, Fluglots*innen, Bodenpersonal. Da ging dann auch nichts mehr.

Sehr schön waren auch jene, die der EVG Gier unterstellt haben. Und andere hingegen meinten, dass sie doch nicht so dumm sind und für diese Hungerlöhne freiwillig arbeiten zu gehen. — Naja, was soll es jetzt sein? Wird das Eisenbahnpersonal fürstlich vergütet, wenn sie den Mindestlohn nur mit Zulagen bekommen? Die Gehaltserhöhungen der Vorstände sind auch deutlich höher als die von der gesamten Belegschaft. Das fühlt sich nicht richtig an.

Wer mit dem Gehalt nicht zufrieden sei, solle sich doch einfach einen anderen Job suchen. — Klar, schließlich kann ja auch jeder in einer quantitativen Naturwissenschaft studieren und dann als KI-Entwickler arbeiten. Oder halt mal Medizin studieren und sich als reiner Privatarzt irgendwo niederlassen. Ich finde solche Aussagen sehr überheblich. Natürlich hat man mit einer entsprechenden Ausbildung mehr Möglichkeiten. Aber die hat eben nicht jede*r, wir haben keine komplette Chancengleichheit in diesem Land. Und daher ist es nur fair gerade jene Personen mit weniger Wechselmöglichkeiten sinnvolle Bedingungen in ihren Jobs erstreiten zu lassen.

Jemand schlug noch vor, dass man doch mal die Privatadressen der Streikführer*innen veröffentlichen sollte. Dann hätte sich das Problem ganz schnell gelöst. — Sind das Nazi- oder Stasimethoden? Was soll denn dann als nächstes passieren? Ein wütender Mob fängt an zu randalieren? Oder ein Neonazi mit Revolver kommt vorbei und erschießt eine Führungsperson aus der Gewerkschaft (siehe Lübke-Mord)? Wenn man schon so einen Quatsch fordert, warum dann nicht die Privatadressen der Chefetage der DB?

Noch jemand wollte Streiken verbieten, zumindest bei der DB. Oder zumindest sollte das Streiken während der Sommerferien untersagt werden. Die Bundesregierung sollte entscheiden dürfen, wann gestreikt werden kann. — Der Verfasser des Kommentars hat leider die offensichtliche Steigerung ausgelassen: »Unter dem Führer hätte es diese Streiks nicht gegeben!«. Klar, weil sich Gewerkschaften weiterhin für mehr Rechte einsetzen und das eben auch mal ungemütlich ist, sollen die Leute dort bitte Arbeitssklaven sein, brav immer arbeiten und gar nicht auf die Idee kommen Forderungen zu stellen. Das ist ein Gesellschaftsbild, das ich entschieden ablehne.

Hilfreich war der Hinweis, dass die Bahn nie hätte privatisiert werden dürfen. — Ja, Bahn ist kritische Infrastruktur und sollte entsprechend behandelt werden. Als Bundesbahn mit Beamten gäbe es keine Streiks, aber es gäbe weiterhin Tarifverhandlungen. Ich fände das total angemessen. Die Autobahnen werden ja auch zentral organisiert durch den Bund. Da ist auch noch niemand auf die Idee gekommen eine Autobahnprivatisierung durchzuziehen.

Wenn man das also alles zusammenfasst, dann haben wir eine privatwirtschaftliche Bahn, die nie hätte privatisiert werden dürfen. Eine gierige Belegschaft, die aber so schlecht bezahlt wird, dass niemand den Job freiwillig machen würde. Und genutzt wird die Bahn auch nicht, die Leute fliegen oder fahren mit dem Auto; trotzdem nimmt sie mit dem Streik Reisende in Geiselhaft. Was denn nun?