Der Preis starrer Erwartungshorizonte

Erwartungshorizonte sind eine gute Sache, um Anforderungen abzustecken. Man darf sich aber nicht auf sie versteifen, sonst richten sie mehr Schaden an, als sie nutzen.

Bei Physikklausuren sind die Erwartungen meist ziemlich einfach aus der Aufgabenstellung abzuleiten. Man soll eine Aufgabe rechnen oder einen Versuch beschreiben. Wenn man zum richtigen Ergebnis kommt, dann ist das richtig.

In Deutschklausuren in der Schule tat ich mich allerdings meist ziemlich schwer damit herauszufinden, was ich eigentlich tun muss. Beim Interpretieren von Romanabschnitten fiel mir zwar einiges ein, aber ich konnte nicht wirklich abschätzen, was jetzt relevant ist. Irgendwann bekam ich einmal den Erwartungshorizont nach einer Klausur gezeigt, das hat mir sehr geholfen. Ich bekomme also Punkte, wenn ich gewisse Dinge schreibe. Und so habe ich dann besser verstanden, warum ich vorher immer nur so wenige Punkte bekommen hatte.

Interessant fand ich das dann auch bei der Jobsuche. Wenn ich zum Beispiel jemanden suchen würde, der Maschinenlernen mit Schwerpunkt Deep Learning machen kann, was würde ich dann an Anforderungen stellen? Die Person müsste in Python programmieren können und sollte Erfahrungen mit einer Bibliothek wie TensorFlow, PyTorch oder JAX haben. Die meisten sinnvollen Firmen werden ihren internen Recruitern dann sagen, dass sie danach schauen sollen. Und wenn irgendwas davon fehlt, aber es trotzdem gut klingt, lieber mal in der Fachabteilung nachfragen, ob es nicht trotzdem relevant ist.

Von Freund*innen habe ich aber auch mitbekommen, wie das ganze viel zu starr war. Da hatte sich einer bei einem Großkonzern auf eine Stelle als Data Scientist beworben. Die Bewerbung hatte er wirklich mitten in der Nacht abgeschickt. Wenige Sekunden später gab es auch schon die Absage. Das muss automatisiert gewesen sein. Und das wirft dann natürlich die Frage auf, was das automatisierte System da gemacht hatte.

Wahrscheinlich hat es einfach nur nach irgendwas bestimmten gesucht. Wenn ich jetzt in meinem Beispiel jetzt einfach nur nach TensorFlow (eine Bibliothek von Google) suchen würde, jemand aber von Meta AI Research kommt und nur PyTorch (eine Bibliothek von Facebook) genutzt hat, dann wäre die Person trotzdem sehr interessant. Zwar sind die Bibliotheken unterschiedlich, jedoch kann man relativ schnell umsteigen im Kopf. Die ganzen Grundlagen und Bausteine haben beide Bibliotheken gemeinsam. Von daher wäre es total bekloppt, das zu streng zu machen.

Noch bekloppter wird es, wenn die Leute länger ihren Automatismus nicht anpassen. Inzwischen ist JAX von Google die neue heiße Bibliothek, und TensorFlow ist so das altbackene. Wenn jetzt jemand ganz viel Erfahrung in JAX hat, aber nicht in TensorFlow, ist das auch okay. Würde man solche Bewerber*innen automatisiert rauswerfen, tut man sich keinen Gefallen.

Noch schlimmer kann es im Bewerbungsverfahren selbst sein. Da haben einige Institutionen dann feste Fragebögen, die während des Gesprächs gefragt werden dürfen. Die Frage darf nicht umformuliert werden, sie darf nur wiederholt werden. Das schafft irgendwie eine Chancengleichheit, nimmt aber jede Individualität aus dem Prozess heraus.

Und die Antworten werden dann auch nach einem vorher klaren Schema bewertet. Nennt eine Person dann gewisse Stichwörter nicht, obwohl sie das richtige sagt, dann gibt es dafür keine Punkte. In diesem starren Rahmen kann man dann aber auch nichts mehr machen. Bewerber*innen, die zufällig die Stichworte genannt haben, kommen weiter.

Ich bin da ganz froh, dass in meinem Umfeld hinreichend Flexibilität vorhanden ist, damit diese Dinge eben nicht passieren.