Wunsch nach unpolitischer Fortbewegung
Wenn ich mit dem Fahrrad fahre, dann nehme ich überall Defizite in der Radverkehrsführung wahr. Das ist für Leser*innen dieses Blogs natürlich gut, so gibt es immer genug Material für Blogeinträge. Auch nehme ich immer wieder Situationen wahr, bei denen ich von Autofahrer*innen bedrängt werde. Dazu dann auf Twitter und Lokalpresse die Auseinandersetzung zwischen den Lager Pro-Auto und Pro-Fahrrad. Es scheint, als wäre Radfahren noch immer ein Politikum.
Manchmal frage ich mich, wie so ein Leben in der Nachkriegszeit wäre, so den autofreundlichen 70er Jahren. Da wäre halt einfach jede Person mit dem Auto gefahren, da hat man sich vielleicht keine Gedanken gemacht. Fortbewegung war unpolitisch. Die Wahl des Verkehrsmittels war keine politische Positionierung, wahrscheinlich weil es außer dem Auto auch nicht wirklich etwas gab.
In den Niederlanden sehen sich die radfahrenden Personen auch nicht als »Radfahrer*in«. Die Niederlande sind damit inzwischen durch, bei denen ist Radfahren ganz normal geworden. Je nach Zweck und Ziel nimmt man das passende Verkehrsmittel. In Deutschland ist Radfahren aber noch politisch, und man muss je nach Strecke schon ein dickes Fell haben.
Ich wünschte, ich könnte mich unpolitisch fortbewegen. Und andererseits bin ich ganz dankbar dieses Gefühl auch erleben zu dürfen. Ich bin ein körperlich fitter weißer heterosexueller cis-Mann aus intaktem Elternhaus ohne Migrationshintergrund, der den höchsten akademischen Abschluss erreichen konnte. Und das in einer G7-Nation als Teil der NATO. Leichter kann man es im Leben wirklich nicht haben. Gerade im Vergleich zu anderen Ländern geht es Deutschland extrem gut, und die aktuelle Zeit ist auch die beste, die wir je hatten. Dazu siehe Pinker2 und Bregman1. Das einzige, das in meinem Leben wirklich schwierig ist, ist Immobilienerwerb. Aber bei wem ist es das nicht?
Ich bin also von keinem der Probleme betroffen, die Personen mit Migrationshintergrund, anderer sexueller Orientierung, hier weniger etablierter religiöser Weltanschauung, unpassendem biologischen Geschlecht, Sprachbarriere, körperlicher Einschränkung oder verwehrter Bildung jeden Tag ausgesetzt sind. Ich kenne zwar Mobbing aus eigener Erfahrung von der Schulzeit, allerdings keine systematische Diskriminierung oder Rassismus. Vom Verkehrssystem benachteiligt zu werden ist noch einmal deutlich weniger schlimm, als die oben genannten Probleme. Ich kann nämlich einfach in ein Auto steigen und diese Benachteiligung komplett abschütteln.
Allerdings gibt es mir eine Idee davon, wie sich Benachteiligung anfühlt. Und wenn ich dann feministische Bücher wie das von Criado Perez3 oder Kühne4 lese, dann kann ich viel mehr glauben, dass diese Dinge wirklich passieren. Ich habe den Hauch einer Ahnung davon, wie es sich anfühlt immer Kraft aufbringen zu müssen um einfach den Alltag zu überstehen. Ähnlich die Treffen mit der Behindertenvertetung im Rahmen von Tiefbau für Stadtentwicklung. Die Welt ist so sehr auf Männer wie mich ausgerichtet, dass ich ohne diese »Diskriminierung light« über das Radfahren vielleicht nie auf die echte Diskriminierung aufmerksam geworden wäre.