Wahlrechtsreform – kein einfaches Problem

Seit Jahren wird immer wieder über eine Reform des Wahlrechts diskutiert, weil der aktuelle Bundestag zu groß ist. Das Problem aktuell sind die Überhangmandate, die durch unser Gemisch aus Erst- und Zweitstimmen entsteht. Wir haben aktuell 299 Wahlkreise, aus denen Direktkandidat*innen in den Bundestag einziehen. Und dann gibt es noch 299 Plätze für Personen über die Zweitstimme.

Für das Verständnis der Überhangmandate ist es am einfachsten, wenn man ein extremes Beispiel mit zwei Parteien nimmt, und wir auf 10 Wahlkreise heruntergehen. Angenommen, in allen Wahlkreisen gehen 80 % der Ersttimmen an die Person von Partei A. 80 % der Zweitstimmen gehen aber an die Person von Partei B. Der Bundestag hat so 10 + 10 = 20 Sitze. Die ersten 10 Sitze gehen an die Personen von Partei A, weil im jeweiligen Wahlkreis immer die einfache Mehrheit ausreicht, um den Wahlkreis zu gewinnen. Die Zweitstimmen werden proportional aufgeteilt, hier gehen 2 Sitze an Partei A und 8 Sitze an Partei B. Somit ist das Ergebnis dann 12 Sitze für Partei A und 8 Sitze für Partei B, obwohl Partei B ja 80 % der Zweitstimmen hat. Die 10 Personen von Partei A dürfen jetzt aber auch nicht gegen Leute von Partei B ersetzt werden. Und so werden so lange Personen von Partei B hinzugefügt, bis das Verhältnis wieder passt. Da 80 % das Vierfache von 20 % ist, müssen es am Ende 48 Personen von Partei B sein, damit es zu den Zweitstimmen passt. Der so zusammengesetzte Bundestag hat dann aber 60 Sitze, also 40 Überhangmandate, also einen Faktor 3 zu groß. Das Beispiel ist extrem gewählt. Je mehr Zweitstimmen die großen Volksparteien allerdings verlieren während sie noch die Ersttimmen bekommen, desto schlimmer wird es.

Nun gibt es diverse Ideen, wie man das Problem lösen könnte. Und alle sind nicht so wirklich überzeugend, weil sie irgendwelche Nachteile für etablierte Parteien mit sich bringen. Ich finde es interessant, diese Ideen einmal mit Extrembeispielen zu illustrieren.

Keine Überhangmandate

Die naheliegende Idee ist natürlich, einfach auf die Überhangmandate zu verzichten, wenn die doch das Problem sind. So haben wir immer genau die Größe, die wir vorher festlegen, also 598 in unserem Fall. Allerdings haben wir dann das Problem, dass hier die Mehrheiten nicht den Stimmen entsprechen. Im Eingangsbeispiel waren allen Stimmen zusammengenommen gleich verteilt, die Parteien hatten aber 12 zu 8 Sitzen. Partei A hat mit den Direktmandaten gewonnen.

Man kann das ganze noch extremer machen. Partei A bekommt 51 % der Ersttimmen in den Wahlkreisen, Partei B 49 %. Somit gehen alle Wahlkreise an Partei A. Bei den Zweitstimmen geht aber alles an Partei B. Somit hat Partei B ungefähr 74 % aller Stimmen bekommen, aber nur exakt die Hälfte der Sitze.

Dieses System bevorteilt alle jene Parteien, die viele Erststimmen bekommen. Die Überhangmandate sind gerade dazu da, die kleinen Parteien zu stärken, die fast nur Zweitstimmen bekommen.

Nur Zweitstimmen

Das mit den Direktmandaten scheint irgendwie problematisch zu sein. Was ist, wenn wir das ganze Konzept einfach weglassen? Wir lösen die Wahlkreise auf, und haben einfach nur noch bundesweit eingetragene Parteien, die man mit Zweitstimmen wählt. Das hat wieder seine eigenen Probleme. Angenommen, Partei A und Partei B haben nur Politiker*innen aus einer kleinen Region auf den Listenplätzen, weil die halt einfach so besonders charismatisch sind und sich die Parteien erhoffen, damit alle Leute bundesweit überzeugen zu können. Nun wird daraus ein Bundestag gewählt, der keinerlei Regionalbezug hat.

Durch die Direktkandidat*innen ist sichergestellt, dass aus jedem Wahlkreis eine Person im Bundestag sitzt. Die Person muss nicht zwangsläufig an der Regierungskoalition beteiligt sein, kann aber die Interessen der Region vertreten. Mit reinen Listenwahlen entfällt dieser Lokalbezug allerdings. Die Akzeptanz des Bundestages kann also schwinden, das möchte man wohl verhindern.

Nur Erststimmen

Um die regionale Repräsentation sicherzustellen könnte man auch einfach nur Erststimmen nehmen. Das führt allerdings schnell zu einem Zweiparteiensystem. Angenommen, es gäbe in jedem Wahlkreis die Parteien A, B und C. Partei A und B stehen sich sehr nahe, Partei C deckt den anderen Teil vom Spektrum ab. Die Wähler*innen von A und B müssen sich entscheiden, welcher der beiden Kandidat*innen mehr Chancen hat und sich darauf konzentrieren. Tun sie das nicht, und geben jeweils Partei A und B 30 % der Stimmen, bekommt Partei C 40 % der Stimmen. Obwohl die Mehrheit im Lager von A und B ist, bekommt C den Sitz.

Bei den nächsten Wahlen müssen sich dann A und B irgendwie zusammenlegen, damit sie da eine Chance haben. Langfristig werden A und B zu einer Koalition verschmelzen, und dann gibt es nur AB gegen C. Das ist das, was man in UK und USA sieht. Dort gibt es Tories und Labor, bzw. Republicans und Democrats. Die über fünf Parteien in unserem System kann dieses Wahlsystem nicht sinnvoll darstellen.

Wahlkreise zusammenlegen

Man könnte das System so lassen und dann Wahlkreise zusammenlegen. Dadurch werden die grundlegenden Probleme zwar nicht gelöst, aber entschärft.

Das Problem hierbei ist allerdings die Entscheidung, wie man zusammenlegt. Hier verlieren bisher erfolgreiche Direktkandidat*innen ihre Wahlkreise und müssen sich politisch mit neuen Gegner*innen orientieren. Die neue Zuschneidung der Wahlkreise ist ebenfalls hochpolitisch und wird zu Vor- und Nachteilen führen. Hier einen angemessenen Ausgleich zu finden erscheint mir ebenfalls sehr schwer.

Fazit

Es ist ein spannendes Problem, und es gibt keine offensichtliche Lösung. Jeder Versuch mit diesen Zutaten etwas zu machen, wird gewisse Parteien benachteiligen. Daher gibt es gegen jede Idee Widerstände. Damit der nächste Bundestag die Wahlrechtsreform nicht direkt wieder rückgängig macht, braucht es eine breite Mehrheit. Und nach der sieht es aktuell nicht aus.