Schwache nehmen auf Starke Rücksicht

Rücksichtnahme im Straßenverkehr ist zum Teil in das Gegenteil pervertiert.

Im ersten Paragraphen der Straßenverkehrsordnung steht:

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Da ist sie, die "gegenseitige Rücksichtnahme". Von der sprechen insbesondere Autofahrer, wenn sie sich über Radfahrer aufregen. Radfahrer sollen bitte auf den Gehwegen fahren und so den Autoverkehr nicht behindern. Die sollen auf dem Autoverkehr Rücksicht nehmen.

Oder beim Parken, da müssen die Fußgänger auch Rücksicht auf die Interessen der parkplatzsuchenden Autofahrer nehmen.

Mit dem ständigen Gemecker, dem "Pochen auf Rechte" und ähnlichem würden die Radfahrer das Klima auf den Straßen schädigen. Und dass die Radfahrer überall schon so viel Platz bekommen, sei doch Zugeständnis und Rücksicht genug. Auf die Autofahrer müsse man jetzt auch einmal Rücksicht nehmen.

Der erste Paragraph der StVO hat übrigens noch einen zweiten Satz:

(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Das ist ebenfalls sehr dehnbar, aber geht klar gegen diese einseitige "gegenseitige Rücksichtnahme". Das, was dort steht, ist der klare Auftrag an die Starken auf die Schwachen zu achten.

Auf der Straße passiert aber häufig das Gegenteil: Die Starken wollen nicht von den Bedürfnissen der Schwachen belästigt werden.

Ich sehe das auch ein bisschen bei anderen politischen Themen. In meinem Verständnis von Demokratie kommen alle Mehr- und Minderheiten zusammen und handeln einen Kompromiss aus, mit dem alle gut leben können. In dem wieder stärker aufkommenden Verständnis darf eine einfache Mehrheit alles vorgeben und Minderheiten haben als solche dann kein Mitspracherecht und weniger Rechte.

Auf dem Straßenverkehr übertragen stellen die Autofahrer die gefühlte Mehrheit. Entsprechend muss sich alles nach ihnen richten und auf sie ausgerichtet sein. Zurückstecken für Minderheiten ist nicht vorgesehen, schließlich ist man ja Teil der Mehrheit.

Sich in andere Gruppen hineinversetzen und empathisch sein scheint nicht überall normal zu sein. Man kann sich auch nicht vorstellen, dass man irgendwann zur Minderheit der Nicht-Autofahrer gehört. Dabei kann durch das Alter jede Person die Fahrtüchtigkeit verlieren. Und dann ist man auf dem anderen Ende des Hebels plötzlich ganz aufgeschmissen.

Wobei sich erstaunlich viele in einer Minderheit reinversetzen können, die der Reichen. Nur wenige Leute sind wirklich reich, die Politik nimmt aber große Rücksicht auf die. Dort geht das mit dem Minderheitenschutz. Aber vielleicht ist das nur der falsche Betrachtungswinkel, haben die Reichen doch die Mehrheit des Geldes.