»Schutzstreifen« schützen überhaupt nicht

In meiner Stadt Bonn gibt es recht wenig baulich getrennte Radwege. An sehr vielen Stellen gibt es nur Schutzstreifen. Damit es keine Missverständnisse gibt, muss man erstmal die verschiedenen Arten von Radinfrastruktur trennen:

Schutzstreifen
Auf der Fahrbahn ist eine gestrichelte Linie angebracht, die am rechten Rand der Fahrbahn einen Bereich für Radfahrer markiert. Mit einem Kraftfahrzeug darf man diesen nur bei Bedarf überfahren. Autos dürfen auf dem Schutzstreifen nicht halten (vor 2020 war es nur Parkverbot).
Radstreifen
Ähnlich, aber mit einer durchgezogenen Linie. Kraftfahrzeuge dürfen nie darüber fahren, es ist ein Sonderweg.
Radstreifen mit Benutzungspflicht
Wie Radstreifen, nur mit einem blauen Verkehrszeichen.
Radweg
Ein baulich getrennter Weg, der nur für den Radverkehr vorgesehen ist.
Radweg mit Benutzungspflicht
Wie Radweg, nur mit einem blauen Verkehrszeichen.
Gehweg »Fahrrad frei«
Auf einem derart markierten Gehweg dürfen Radfahrer als Gäste fahren, mit angepasster Geschwindigkeit. Es besteht keine Benutzungspflicht.
Gemeinsamer Geh-Radweg
Hier teilen sich Fußgänger und Radfahrer gleichberechtigt einen baulich getrennten Weg. Da die Radfahrer aber schneller unterwegs sind, müssen sie sich von der Geschwindigkeit natürlich anpassen.
Geschützter Radstreifen
Aus dem Englischen als protected bike lane bekannt. Ein Radstreifen, der mit Pollern vom Autoverkehr abgetrennt ist und nicht überfahren werden kann.

Diese Feinheiten sind den meisten nicht bekannt, daher kommt es immer wieder zu Diskussionen aufgrund falscher Vorstellungen. Am schlimmsten ist es mit dem »Schutzstreifen«. Dieser wird von vielen Autofahrern anscheinend als Sonderweg wahrgenommen, sodass kein zusätzlicher Abstand zum Radfahrer eingehalten wird. In der Praxis sieht das dann so aus:

Rot eingezeichnet ist meine Spur.

Man kann gut erkennen, dass gerade Gegenverkehr kommt. Somit wird das silberne Auto noch komplett auf der rechten Seite der Fahrbahn fahren. Mein Lenkerende ist ungefähr auf der gestrichelten Linie gewesen. Der Abstand zum Seitenspiegel des Autos ist eher knapp.

Ich habe das Auto von hinten kommen gehört und bin davon ausgegangen, dass ich überholt werde. Um mir noch etwas mehr Platz zu geben, bin ich etwas nach rechts gefahren. Der Schutzstreifen ist sogar so schmal, dass ich knapp vor dem Überholmanöver dann über den Gullideckel fahren musste:

Durch das Überfahren des Gullideckels wurde ich durchgeschüttelt und das Risiko meine Spur zu verlieren war größer als sonst. Hätte ich an dieser Stelle den Lenker verrissen, so wäre ich entweder gegen den Bordstein gekommen und gestürzt oder direkt vom Auto erfasst worden. Beides nicht gerade erfreuliche Aussichten. Und ich bin ein geübter Radfahrer, der durchschnittlich pro Tag mehr als eine halbe Stunde fährt. Wie ein unsicherer Radfahrer diese Situation wohl wahrnimmt?

Die Rechtssprechung und inzwischen auch der Gesetzgeber finden, dass da hinreichend Abstand eingehalten werden muss:

Da der Fahrradschutzstreifen zudem keinen Sonderwegs darstellt, sondern Teil der Fahrbahn ist, müssen Kfz beim Überholen einen Seitenabstand von mindestens 1,50 m einhalten. — Quelle

In diesem konkreten Beispiel bedeutet das, dass bei Gegenverkehr kein Radfahrer überholt werden kann! Und ich habe den Eindruck, dass die gestrichelte Linie in der Wahrnehmung der Autofahrer den Abstand ersetzt. Sie teilt die Straße in Auto und Fahrrad ein, ein Puffer ist ja nicht markiert. Eigentlich müsste der Schutzstreifen 70 cm Lenkerbreite und 150 cm Sicherheitsabstand sein, also 220 cm weit in die Fahrspur hineinragen. Das ist so breit wie ein Auto und würde deutlich machen, dass bei Gegenverkehr nicht überholt werden kann. Da die Linie aber eher so bei 70 cm markiert ist, suggeriert sie die Möglichkeit des Überholens bei Gegenverkehr.

Als Radfahrer habe ich hier wenig Möglichkeiten mich zu wehren. Da bei einem Unfall das Leben des Autofahrers nicht ernsthaft gefährdet ist, hat er deutlich weniger Angst als ich. Falls ich solche Leute an der nächsten Ampel auf den mangelnden Abstand angesprochen habe, kamen fast immer Variationen von »ist ja nichts passiert«.

Die bisher einzige Möglichkeit, die ich gefunden habe, ist mittig auf der Straße fahren. Dadurch versperre ich dem Autofahrer die komplette Spur, er muss auf die Gegenfahrbahn ausweichen um mich zu überholen. Somit ist Überholen möglich, aber nicht bei Gegenverkehr. Nach rechts habe ich dann genug Platz um im Zweifelsfall noch ausweichen zu können. Dagegen spricht allerdings das Rechtsfahrgebot:

Da es sich nicht um einem amtlich ausgewiesenen Radweg handelt, besteht keine Benutzungspflicht für Radfahrer. […] Allerdings gilt das Rechtsfahrgebot, was die Nutzung in der Regel einschließt. — Quelle

Meist wird angenommen, dass der Schutzstreifen benutzungspflichtig ist. Wenn ich also zum Durchsetzen des Sicherheitsabstandes mittig gefahren bin, musste ich mir entsprechende Behauptungen anhören. Teilweise wurde ich dann sogar extra knapp überholt, Einschüchterung und Erziehungsversuch ist ganz offensichtlich.

Letztlich bleibt also hier innerhalb des Schutzstreifens zu fahren, auch wenn dieser durch Gullideckel nicht komfortabel befahrbar ist. Dabei muss man dann eisern seine Spur halten und einfach hoffen, dass der Autofahrer seine Spur ebenfalls hält.

Im Beispiel oben habe ich allerdings von rechts keine Gefahr. Dort ist einfach nur ein Gehweg mit einer Bordsteinkante, jedoch kann ich rechtzeitig Fußgänger erkennen. In der Regel gehen diese auch nicht so nah an der Straße, dass sie mich berühren könnten. Einzig gefährlich sind sie beim Überqueren der Straße. Mein Rad ist sehr leise und manche Leute schauen nicht richtig und verlassen sich auf ihr Gehör. Das kann ich aber schon sehen und entsprechend vorausschauend fahren.

An vielen Stellen in Bonn werden diese Schutzstreifen aber direkt neben legalen Parkplätzen markiert. Als Radfahrer muss ich aber auch einen Abstand zu den parkenden Autos halten, damit eine unachtsam geöffnete Autotür für mich nicht zur Gefahr wird.

Das Landgericht Berlin urteilte 1995, dass Radfahrer einen so großen Abstand von parkenden Autos halten müssen, dass sie eine unachtsam geöffnete Autotür nicht gefährdet. In der Praxis sind das 1 Meter Abstand oder mehr, denn Autotüren haben durchaus eine Breite von 1 bis 1,20 Meter. — Quelle

Das ganze beschreibt der ADFC ähnlich:

Beim Vorbeifahren an parkenden Fahrzeugen gehen Gerichte von einer Türbreite Abstand aus, die der Radfahrer einhalten muss (LG Berlin, Az. 24 O 466/95, OLG Karlsruhe, Az. 10 U 283/77). Der Öffnungsbereich von Autotüren erstreckt sich von etwa 80 cm bei schmalen Türen von viertürigen Kleinwagen bis etwa 1,5 m bei zweitürigen Coupés oder bei LKW.

In Bonn gibt es beispielsweise in der Sebastianstraße einen Schutzstreifen, der sogar ohne Trennstreifen zu den parkenden Autos markiert worden ist. Dies sieht dann so aus:

Nun muss ich also einen Abstand zu den parkenden Autos halten, der ungefähr so breit ist wie der Schutzstreifen an der Stelle. Dadurch fahre ich aber neben dem Schutzstreifen, was in der Wahrnehmung von leider hinreichend vielen Autofahrern der von mir zu nutzende Teil der Fahrbahn ist. Autofahrer haben schließlich kein Problem damit, knapp an parkenden Autos vorbeizufahren. Öffnet jemand im parkenden Auto die Tür, so kommt es zwar zu einem Unfall, jedoch beim fahrenden Auto nur zu einem Blechschaden. Dies ist also keine Lebensgefahr.

Das Problem wird vor allem deshalb so deutlich, weil die in Bonn markierten Schutzstreifen viel zu schmal sind, um ihren Zweck zu erfüllen. Die ERA 2010 sieht nämlich eine größere Breite vor:

Schutzstreifen sind nach den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen mindestens 125 cm breit anzulegen, in der Regel 150 cm, die VwV-StVO enthält keine Angaben zur Breite von Schutzstreifen. — Quelle

Zudem muss noch genug Platz bis zum Mittelstreifen verbleiben:

Die verbleibende Restfahrbahn, auch Fahrgasse oder Kernfahrbahn genannt, muss je vorgesehener Fahrtrichtung 225 cm breit sein. — Quelle

Ein feines Detail ist noch, dass keine Mindestmaße kombiniert werden sollen. Aber genau das wird natürlich gemacht.

Im Artikel vom ADFC steht noch dies hier:

Gerade bei den vielen alten Radverkehrsanlagen rechts neben Parkstreifen ist damit eine sichere Nutzung kaum möglich. — Quelle

Traurigerweise ist dieser Artikel von 2012. Der Schutzstreifen in der Sebastianstraße wurde 2019 sogar noch verlängert. Offensichtlich werden in Bonn neue alte Radverkehrsanlagen gebaut.

Immerhin kann man in der Sebastianstraße noch den Abstand zu den Autos lassen und trotzdem überholt werden. Auch fehlt hier die Mittellinie, sodass Autofahrer gar nicht so aggressiv werden, wenn man Abstand zu den parkenden Autos lässt. Anders ist das am Kaiser-Karl-Ring. Dort gibt es eine bauliche Abtrennung in der Mitte:

Hier kann der Autofahrer keinen größeren Abstand einräumen zum Überholen. Allerdings muss er 150 cm Überholabstand einhalten, bei Kindern und Kinderanhängern sogar 200 cm. Dies ist sogar nicht möglich, wenn der Radfahrer ganz nah an den parkenden Autos fährt. Hält der Radfahrer seinen Abstand zu den parkenden Autos ein, natürlich ebenfalls nicht. Es herrscht also de facto ein Überholverbot von einspurigen Fahrzeugen an dieser Stelle. Der Schutzstreifen suggeriert jedoch eine Aufteilung, sodass hier ein problemloses Überholen möglich scheint. Somit wird ein »Recht auf Überholen« wahrgenommen und sich entsprechend beschwert, wenn man es einem ungeduldigen Autofahrer nimmt. Ich empfinde diese Stelle als derart gefährlich, dass ich dort seit Jahren nicht mehr gefahren bin.

Vor vielen Jahren waren dort zwei Spuren für Autos, aber ohne Trennlinie. Der Radstreifen, den es früher bis an die Kreuzung gab, endete einfach mitten auf der Kreuzung. Auf Google Street View an dieser Kreuzung gibt es noch alte Fotos von 2009. Man könnte glauben, dass hier etwas gutes für den Radverkehr geschaffen worden ist. Jedoch konnte man damals mit hinreichendem Abstand an den parkenden Autos vorbeifahren, die Autofahrer hatten noch genug Platz zum Überholen. Durch die fehlenden Markierungen war die Straße nicht scheinbar in »meins« und »deins« eingeteilt. Und heute ist es für Radfahrer eher gefährlich. Aber es wurden neue Parkplätze geschaffen, das scheint in Bonn echt die Priorität zu sein.

Ein ähnliches Beispiel findet man Am Alten Friedhof. Dies wurde vor wenigen Jahren neu gebaut. Und hier besteht durch die schmale Spur und das Überholtverbot (durchgezogene Linie) ein Überholverbot von Fahrrädern. Der Schutzstreifen suggeriert allerdings, dass ein Vorbeifahren problemlos möglich ist.

Das ganze erinnert an einen Bahnsteig. Links die Bahn, rechts normalerweise wartende Leute, deren Bewegungen man nicht vorhersagen kann. Man bekommt immer wieder gesagt, dass man sich von der Bahnsteigkante fernhalten soll. Zurecht! Aber jetzt stelle man sich einmal vor, dass man gerade im markierten Bereich der Bahnsteigkante Fahrrad fahren sollte und das als erhöhte Sicherheit verkauft werden würde. Ähnlich fassungslos stehe ich Schutzstreifen wie am Kaiser-Karl-Ring gegenüber.

Bildquelle: Wikimedia Commons contributors, "File:Lampertheim- Hofheim- Bahnhof Hofheim (Ried)- auf Bahnsteig zu Gleis 1- Richtung Nordost (Entgleisung) 15.5.2017.jpg," Wikimedia Commons, the free media repository (heruntergeladen 07.05.2020). Lizenziert unter CC-BY-SA.

An der TU Braunschweig wurde in der Arbeitsgruppe um Frau Dr. Huemer eine Untersuchung zum Überholverhalten durchgeführt: Wie beeinflusst die Infrastruktur für Radfahrer das Überholverhalten von Autofahrern? Dort kann man gut erkennen, dass eine Linie auf der Straße den Überholabstand deutlich reduziert. Folgende Tabelle qibt die Quantile der Verteilung wieder:

Abstand Schutzstreifen Ohne
< 150 cm 82 % 25 %
< 100 cm 31 % 7 %

Mit einem Schutzstreifen wird man fast immer (82 %) zu eng überholt, und in vielen Fällen (31 %) erschreckend knapp. Das passiert ohne Schutzstreifen nicht, da ist der Anteil der erschreckend knappen Überholmanöver deutlich geringer.

Am liebsten wäre mir, wenn diese »Schutzstreifen« komplett entfernt werden würden. Straßen, die nicht breit genug sind, werden durch einen Schutzstreifen auch nicht breiter. Vielmehr scheinen sie Autofahrern zu suggerieren, dass der restliche Teil der Straße für sie reserviert ist. Oder man macht die Schutzstreifen so breit, dass der Überholabstand und Abstand zu parkenden Autos mit enthalten ist. Das werde ich in Bonn aber wohl in absehbarer Zeit nicht erleben und meide eben die Stellen mit den Schutzstreifen. Fahrradhauptstadt 2020 hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.