Revision von Theorien – Bezug zu Geschlechtern

Ich bin Naturwissenschaftler. Und die Aufgabe der Naturwissenschaft ist für mich die Beschreibung der Natur mit Modellen, deren Vorhersagen möglichst genau zur Realität passen. Dadurch werden diese Modelle nützlich. Da kein Modell perfekt ist, sind immer wieder Anpassungen oder komplette Revisionen nötig.

Nehmen wir Wettervorhersage. Ein einfaches Modell wäre anzunehmen, dass es jeden Tag regnet. Man muss nicht lange beobachten, bis man hinreichend viele Fälle gefunden hat, die das Modell widerlegen. Als natürlichen nächsten Schritt sucht man ein besseres Modell. Man könnte eines nehmen, dass immer das Wetter vom Vortag nimmt. Das stimmt schon viel häufiger, ist aber auch ziemlich limitiert. Dies entwickelt man immer weiter, bis man so komplexe Modelle hat, dass es Simulationen auf Großrechnern braucht, um Vorhersagen zu treffen.

Modelle werden dabei immer komplexer. Nimmt man die Bewegungslehre von Galilei, können Körper auf unendliche Geschwindigkeiten gebracht werden. Das war, zusammen mit der Gravitationstheorie von Newton, ein hinreichend detailliertes Modell, um die Bahnen der Planeten vorherzusagen. Es gab einige Anhaltspunkte für Lücken, zum Beispiel die Periheldrehung des Merkurs, die mit dieser Theorie nicht komplett zu erklären ist. Erst die allgemeine Relativitätstheorie von Einstein könnte diese Drehung komplett erklären.

Die Überarbeitung von Modellen ist also die tägliche Arbeit in den Naturwissenschaften. Bisher nicht widerlegte Modelle können für praktische Anwendungen genutzt werden. So wird die Mechanik von Newton für Statik und Maschinenbau genutzt. Klassische Thermodynamik reicht für die meisten Kraft-Wärme-Maschinen aus, erst für spezielle Dinge muss man die quantenmechanische Grundlage der Thermodynamik auspacken.

Einige Theorien kamen auch erst nach langen Zeiten der Verwirrung. So gab es früher eine klare Einteilung in Materie und Energie (Wellen). Ein Klotz Eisen? Materie! Licht? Energie! Mit der Zeit kamen aber immer mehr Experimente, die an dieser Einteilung gekratzt haben. Es gab den Doppelspalt mit Elektronen, bei dem Materie Eigenschaften von Wellen zeigt. Oder aber der photoelektrische Effekt, bei dem Licht eine Teilcheneigenschaft zeigt. Wie hat man es gelöst? Die Quantenfeldtheorie beschreibt alles als quantisierte Anregungen von Quantenfeldern. Somit sind es Wellenpakete. Man kann sich das wie einen Tsunami vorstellen: Eine recht eng lokalisierte Wand, die aber technisch aus Wellen besteht.

Mit der Quantenfeldtheorie konnte man mehr erklären, als vorher. Die Theorie hat die interessanten neuen Fälle abgedeckt. Sie hat als Grenzfälle noch immer zwei Extreme, die wir weiterhin als grobes Konzept als Materie und Energie bezeichnen. Wir wissen aber, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Genauso wie wir im Alltag die Relativitätstheorie vernachlässigen, weil es meist in keinen messbaren Unterschied macht.

Nun ist Physik nicht politisch, trotzdem wurde damals wohl erbittert gestritten. Und so gibt es auch heute Themen, bei denen Personen sich an ein Modell klammern, obwohl es schon widerlegt ist. Eines der krassesten Beispiele ist das Modell, dass es zwei Geschlechter gibt. In erster Näherung eine gute Einteilung, man kann damit einen sehr großen Teil der Varianz zwischen Personen erklären. Aber eben nicht alles. Und da wird es dann interessant.

Zum Beispiel gibt es Moose, die sich eingeschlechtlich fortpflanzen. Oder Clownfische, die bei einem Mangel an Weibchen ihr Geschlecht ändern können. Das sind schon zwei Beispiele, die nicht in das einfache Modell der zwei Geschlechter passen. Dann gibt es natürlich auch Menschen, die teilweise körperliche Merkmale beider Geschlechter in sich tragen.

Dem Modell nach kann es so etwas nicht geben. Und da es diese Fälle aber gibt, ist das Modell nicht ausreichend. Für mich ist klar, dass wir das Modell anpassen müssen. Würde es um etwas lebloses wie Hadronen gehen, die auch wenig Einfluss auf unseren Alltag haben, würde sich bestimmt niemand daran stören, das Modell zu erweitern.

Bei den Geschlechtern gibt es aber teilweise heftigen Widerstand. Denn der nächste Schritt nach einer Anpassung der Theorie ist zu schauen, was in der Anwendung verändert werden müsste. Und da ist eine ganze Menge. Sobald Personen nicht mehr exklusiv in eine von zwei Gruppen einteilbar sind, kann man diese Einteilung nicht mehr machen. Sei es Anreden in Formularen, Toiletten, Leistungsklassen im Sport.

Natürlich braucht eine Gesellschaft eine gewisse Stabilität und Kontinuität. Würde man das Konzept von Eigentum, Familien oder Lohnarbeit einfach über Nacht ändern, gäbe es Chaos. Genauso kann man nicht über Nacht alle Toiletten umstellen. Das braucht Zeit und Ressourcen. Die Alternative wäre, einen gewissen Teil der Gesellschaft nicht abzubilden. Und das ist doch genau das Gegenteil von der Individualisierung, die gewünscht ist. Wie groß wäre der Aufschrei, wenn es nur zwei Autotypen gäbe: Minivan und Cabrio. Wer da nicht passt, hätte halt Pech; eine Minderheit, auf die keine Rücksicht genommen würde.

Wie genau man das Konzept der Geschlechter im Alltag an das neue Modell anpasst, muss man sehen und diskutieren. Da gibt es keine einfachen Lösungen. Aber es bleibt mir aus wissenschaftlicher Sicht unbegreiflich, wie man sich grundlegend gegen die Erkenntnis stemmen kann, dass ein Modell nicht mehr gültig ist. Es muss also eine Verteidigung der eigenen Identität und Gruppe sein, wie damals mit der Kirche gegen das heliozentrische Weltbild.