Halo Orbit des James Webb Space Telescopes

Die Tage ist das James Webb Space Telescope gestartet. Es soll an den Lagrangepunkt L2 gebracht werden. In manchen Artikeln klingt es so, als würde es dort stationär geparkt:

[…] wird es auf der sonnenabgewandten Seite der Erde in rund 1,5 Millionen Kilometern Entfernung am Lagrange-Punkt L2 abgesetzt […]

In einem anderen Artikel, dass es dort kreist:

Das Teleskop soll 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt stationiert werden, auf einer Kreisbahn um den "Lagrange-Punkt 2"

Was passiert denn jetzt?

Konstruktion Lagrangepunkte

Zuerst müssen wir uns anschauen, wie die Lagrangepunkte entstehen. Der Lagrangepunkt L1 zwischen Sonne und Erde ist noch recht intuitiv. Das ist jener Punkt, an dem ein Körper gleichermaßen Richtung Sonne und Erde gezogen wird. Da die Erde deutlich weniger Masse hat als die Sonne, liegt dieser Punkt nahe an der Erde.

Die Gravitationskraft $F$ zwischen zwei Körpern mit den Massen $M$ und $m$ und Abstand $r$ wird bestimmt durch die Gravitationskonstante $G$ und dem Zusammenhang $$ F = - G \frac{Mm}{r^2} \,. $$

Die Kraft ist also proportional zur Masse, und invers proportional zum Quadrat des Radius'. Wenn wir das Vorzeichen der Kraft noch mitnehmen wollen, schreiben wir das ganze als $$ F = - G \frac{Mm}{|r|^3} r \,. $$ Ist die Position rechts der Sonne ($r > 0$), so ist die Kraft negativ (zieht also nach links). Ist die Position links der Sonne ($r < 0)$, ist die Kraft positiv (zieht nach rechts). Das ist auch das, was wir erwarten, die Sonne zieht alles nach innen zu sich.

Würde sich die Erde nicht um die Sonne drehen, wäre es das dann auch schon. Im rotierenden Bezugssystem kommt aber noch die Zentrifugalkraft hinzu. Die Stärke ist gegeben durch $$ F = m \frac{v^2}{r} \,, $$ wobei wir es hier mit der Kreisfrequenz der Erdumrundung $\Omega = 2 \pi / \text{Jahr}$ und $v = \Omega r$ zu $F = m \Omega^2 r$ umschreiben wollen.

Die Kreisfrequenz können wir, unter der vereinfachenden Annahme eines kreisrunden Erdorbits und vernachlässigbarer Erdmasse gegen Sonnenmasse auch wie folgt herleiten. Im rotierenden Bezugssystem steht die Erde still, weil die Schwerkraft der Sonne gerade die Zentrifugalkraft ausgleicht. Das können wir zusammensetzen als $$ G \frac{M_\mathrm S M_\mathrm E}{r_\mathrm E^2} = M_\mathrm E \Omega^2 r_\mathrm E \,. $$ Dabei habe ich die Sonnenmasse $M_\mathrm S$, die Erdmasse $M_\mathrm E$ und den Sonne-Erde-Abstand $r_\mathrm E$ eingeführt. Diese Formel können wir vereinfachen zu $$ \Omega^2 = G \frac{M_\mathrm S}{r_\mathrm E^3} \,. $$ Setzt man die Werte ein, und nimmt für $r_\mathrm E$ den mittleren Abstand, so kommt man ziemlich genau auf $\Omega = 2 \pi / \text{Jahr}$.

Die Zentrifugalkraft muss also noch zu der Gesamtkraft auf einen Satelliten hinzu. Wenn haben also drei Komponenten: Die Anziehung von der Sonne, die Anziehung von der Erde, und noch die Zentrifugalkraft. Alles zusammen ergibt dann diese Kraft auf einen Satelliten der Masse $m$ an Position $x$: $$ F = - G \frac{M_\mathrm S m}{|x|^3} x - G \frac{M_\mathrm E m}{|x - r_\mathrm E|^3} (x - r_\mathrm E) + m \Omega^2 x \,. $$ Wir können hier noch $F = ma$ nutzen und das $m$ des Satelliten loswerden. Wir haben dann nur die Beschleunigung $a$ übrig: $$ a = - G \frac{M_\mathrm S}{|x|^3} x - G \frac{M_\mathrm E}{|x - r_\mathrm E|^3} (x - r_\mathrm E) + \Omega^2 x \,. $$

Mit dieser Formel kann man sich weniger vorstellen, als mit einem Bild. Der folgende Plot enthält diese Beschleunigung. Wir haben die Sonne ganz weit links, die Erde ist ungefähr in der Mitte. Der blaue Teil der Kurve ist zwischen Erde und Sonne, der orange Teil ist außerhalb der Erdumlaufbahn. Ganz links ist die Beschleunigung negativ, der Satellit wird also zur Sonne gezogen. Etwas weiter nach rechts wird die Kraft zur Sonne schwächer (weniger Negativ), bis sie irgendwann positiv wird. Dann wird der Satellit nach rechts zur Erde gezogen. Die Kraft wird immer stärker, je näher es an die Erde geht. Auf der anderen Seite ist das Vorzeichen anders, da wird der Satellit zur Erde gezogen. Diese Kraft nimmt mit zunehmender Entfernung ab. Irgendwann wird die Kraft dort positiv, der Satellit wird also nach außen weggeschleudert.

Es gibt links und rechts der Erde je einen Nulldurchgang der Beschleunigung. Das sind gerade die Lagrangepunkte. L1 links, L2 rechts. Dort wirkt keine Beschleunigung auf den Satelliten.

Erste Stabilitätsanalyse

Trifft man exakt den Punkt L2 ($x = r_\mathrm L$), so ist der Satellit dort in einem Kräftegleichgewicht. Ist man jedoch etwas zu weit links ($x < r_\mathrm L$), so bekommt man eine Beschleunigung nach links ($a < 0$). Dadurch wird die Position nur noch weiter von dem L2-Punkt entfernt. Ist ist ein labiles Gleichgewicht, wie ein auf einem Finger balancierter Stab. Man muss also immer wieder Korrektorbeschleunigungen mit Raketen durchführen, um nicht wegzudriften.

Drei Dimensionen

Auch wenn die Betrachtung nur mit einer Achse praktisch war, war das nicht alles. Der Satellit kann sich ja nicht nur nach links und rechts, sondern auch vorne, hinten, oben oder unten bewegen. Wir müssen uns noch anschauen, was passiert, wenn die Gleichgewichtsposition in diese Richtungen verlassen wird.

Wir könnten das mit der vollen Formel von oben machen und diese für drei Dimensionen mit Vektoren schreiben: $$ \vec a = - G \frac{M_\mathrm S}{|\vec x|^3} \vec x - G \frac{M_\mathrm E}{|\vec x - \vec r_\mathrm E|^3} (\vec x - \vec r_\mathrm E) - \vec \Omega \times \vec \Omega \times \vec x \,. $$

Ich habe das Koordinatensystem so gewählt, dass die X-Achse jene Achse ist, auf der Sonne und Erde liegen. Die Y-Achse geht dann nach hinten in der Ebene der Erdumlaufbahn. Die Z-Achse geht nach oben. Die Erde dreht sich im positiven Sinne um die Z-Achse, also gegen den Uhrzeigersinn. Die Position der Sonne ist bei $(0, 0, 0)$, die Position der Erde bei $(r_\mathrm E, 0, 0)$. Die Rotationsachse $\vec \Omega$ ist $(0, 0, \Omega)$.

Diese Beschleunigung ist ein dreidimensionales Vektorfeld (wie die Karte mit den Windgeschwindigkeiten im Wetterbericht). Das können wir nicht wirklich gut sichtbar machen. Mit einer Taylorentwicklung können wir die erste Ordnung um den Gleichgewichtspunkt extrahieren. Diese Vorgehensweise nennt man Störungstheorie und ist hier auch praktisch.

Die Abweichung vom L2-Punkt nenne ich $\delta \vec x$, und wir bekommen dann einen Zusammenhang der Form $\vec a = A \, \delta \vec x$, wobei $A$ eine Matrix ist. Diese ist $$ A = - G \frac{M_\mathrm S}{r_\mathrm L^3} \begin{pmatrix} -1 & 0 & 0 \ 0 & 2 & 0 \ 0 & 0 & 1 \end{pmatrix} - G \frac{M_\mathrm E}{(r_\mathrm L - r_\mathrm E)^3} \begin{pmatrix} -2 & 0 & 0 \ 0 & 1 & 0 \ 0 & 0 & 1 \end{pmatrix} \,. $$

Wir können dort die Zahlen einsetzen und erhalten $$ A = \begin{pmatrix} 3{,}52 & 0 & 0 \ 0 & -1{,}16 & 0 \ 0 & 0 & -1{,}56 \end{pmatrix} \cdot 10^{-13} \frac{1}{\mathrm s^2} \,. $$

Falls das in der Formel nicht korrekt rauskommt, hier nochmal die Werte in Einheiten von $10^{-13} \frac{1}{\mathrm s^2}$ als Tabelle:

x y z
3,52 0 0
0 -1,16 0
0 0 -1,56

Anhand der Vorzeichen kann man die Stabilität sehen. Ist die Zahl positiv, so führen kleine Abweichungen zu einer Beschleunigung in die gleiche Richtung, das Gleichgewicht ist also labil. Ist das Vorzeichen hingegen negativ, geht die Kraft in die Richtung, die der Störung entgegengesetzt ist. Somit wird das also korrigiert. Da wir nur die erste Ordnung anschauen, ist das ganze äquivalent zu einem harmonischen Oszillator, also wie eine Masse an einer Stahlfeder.

Wir haben in X-Richtung also ein instabiles Gleichgewicht, in Y- und Z-Richtung jedoch einen stabilen Oszillator. Wenn der Satellit also nach oben oder unten aus der Rotationsebene heraustritt, wird er wieder in diese Ebene zurückgezogen. Und entfernt er sich nach vorne oder hinten vom Lagrangepunkt, so wird er ebenfalls wieder zurückgezogen. Einzig eine Abweichung nach links oder rechts führt zur weiteren Entfernung vom Ausgangspunkt.

Wir können in allen Fällen die Schwingungsperiode bestimmen. Die Wurzel aus dem Eintrag in der Matrix ist die Kreisfrequenz $\omega$ der Schwingung. Diese können wir noch durch $2 \pi$ teilen, um eine Frequenz in Hertz zu erhalten. Diese rechnet man dann noch auf Jahre um, sodass wir ein Gefühl dafür bekommen. Die Resonanzfrequenzen des Oszillators ist in jede Richtung unterschiedlich: $f_x = 2{,}98 \mathrm i / \text{Jahr}$, $f_y = 1{,}71 / \text{Jahr}$ und $f_z = 1{,}98 / \text{Jahr}$. Die Resonanzfrequenz $\omega_x$ ist imaginär, weil es kein stabiles Gleichgewicht ist. Trotzdem gibt es uns ein Gefühl für die Größenordnung der Instabilität.

Halo-Orbit

In dieser Näherung der ersten Ordnung wäre ein stabiler Orbit in der Y-Z-Ebene möglich, solange keine Abweichung auf der X-Achse zustandekommt. Die Perioden sind 0,583 Jahre in Y-Richtung und 0,503 Jahre in Z-Richtung. Da diese nicht gleich sind, ist der Orbit kein geschlossener Kreis (oder Ellipse).

Nehmen wir einmal die Vorfaktoren weg und nehmen nur das Verhältnis der beiden Resonanzfrequenzen der Achsen, so erhalten wir eine Lissajous-Figur wie den folgenden:

Dieser Orbit ist in der Hinsicht stabil, dass der Satellit das Gebiet nie verlässt. Er ist aber nicht geschlossen, jede Umrundung ist auf einer neuen Spur. Das ist aber kein Problem für den Satelliten. Das James Webb Space Telescope soll ja eh bei großer Rotverschiebung messen. Das ist außerhalb unserer Galaxie, und da haben wir keinen Parallaxeneffekt dadurch.

Es muss verhindert werden, dass der Satellit in X-Richtung abdriftet. Das kann aber mit entsprechenden Steuerdüsen gewährleistet werden. Dann hat er in Y-Z-Ebene einen Orbit. Diesen nennt man Halo-Orbit, den Orbit in X-Y-Ebene würde man Lissajous-Orbit nennen (Quelle).

Coriolis-Kraft

Wir haben jetzt noch eine Kraft vernachlässigt, die bei der statischen Stabilität jedoch keine Rolle spielt: Die Coriolis-Kraft. Die kommt noch als Term $- 2 m \vec \Omega \times \vec v$ dazu. Sie zeigt immer senkrecht zur Drehachse $\vec \Omega$ (ist also immer in der Rotationsebene des Sonnensystems), und senkrecht zur Bewegungsrichtung $\vec v$. Wenn wir diese noch in den Halo-Orbit einbauen, haben wir dadurch eine Kraft, die den Satelliten zur Sonne oder zur Sonne bewegt. Der Orbit ist dann also nicht mehr sinnvoll stabil. Es braucht also noch Kurskorrekturen, um die Coriolis-Kraft auszugleichen.

Weiterführendes

In der verlinkten Quelle ist noch ein Papier verlinkt, das diese Orbits genauer simuliert. Es nimmt auch noch nicht-lineare Kräfte mit rein, sodass das ganze nochmal interessanter wird.