Ernüchterung über Tagesschau wegen mangelndem Hintergrund
An sich finde ich das Konzept eines Rundfunks, der frei von wirtschaftlichen Interessen ist, ziemlich gut. Ich lese eigentlich gerne die Tagesschau-Webseite. Aber immer wieder spüre ich eine Stimmung. Und nun habe ich ein konkretes Beispiel gefunden, das mich hart stört.
Die Tagesschau titelte am 18.12.2024:
Techniker Krankenkasse: Höhere Beiträge für Millionen Versicherte
Okay, bei der TK wird es also teurer. Hmm. Das ist ärgerlich. Im ersten Absatz findet man dann diese Einleitung:
Angesichts steigender Kosten für die Gesundheitsversorgung werden spürbare Beitragsanhebungen für viele Versicherte konkret.
Und diese Begründung am Ende des ersten Absatzes:
Gründe für den Anstieg seien unter anderem starke Ausgabensteigerungen für Kliniken und Arzneimittel.
Die Erhöhung, die 2025 kommt, ist wohl gigantisch:
"Das ist ein nie da gewesener Sprung - der größte seit Einführung der freien Krankenkassenwahl 1996", sagte Vorstandschefin Anne-Kathrin Klemm am Montag der Bild.
Im letzten Absatz geht es noch um die Reserven, die wohl auch eher aufgebraucht sind:
Die Reserven seien weitgehend aufgebraucht, fügte sie hinzu. Das sich abzeichnende Rekorddefizit 2024 zwinge viele Kassen, ihre Beiträge merkbar höher anzuheben, "da die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestrücklagen wieder aufgefüllt werden müssen".
Gerne auch den oben verlinkten Artikel komplett lesen. Das ganze liest sich so, als wären halt die Kosten gestiegen und daher müsste man jetzt eben die Beiträge anheben.
Meine Schlussfolgerung daraus war, dass die Politik da letztlich nichts machen kann. Also gut, irgendwie die Kosten versuchen zu deckeln. Aber letztlich geht es hier um die Finanzierung der Krankenkassen, bei denen der Bund eigentlich nicht direkt eingreifen sollte.
Das Interview mit dem TK-Geschäftsführer
Nun war ich allerdings schon vorher über Mastodon auf ein Interview mit dem TK-Geschäftsführer vom 01.12.2024 aufmerksam geworden. Und darin erklärt er den Sprung. Bundesgesundheitsminister Spahn hatte nämlich als sein persönliches politisches Ziel stabile Krankenkassenbeiträge. Ist für die Wählerschaft natürlich toll. War aber bei steigenden Kosten nicht seriös machbar. Also gab es ein Gesetz, dass das Aufbrauchen der Rücklagen erzwungen hat. Und somit hat die TK dann die Rücklagen aufbrauchen müssen. Nun sind die Rücklagen weg und die Beiträge müssen eben schlagartig steigen, weil sie die Kostensteigerungen der letzten Jahre alle mitnehmen müssen.
Oh, das ist ja etwas komplett anderes. Die Hamburger Morgenpost titelte am 18.12.2024 ganz anders:
„Beschiss“: Hamburger Krankenkassen-Chef rechnet mit Jens Spahn ab
Es hat also durchaus eine politische Dimension. Es ging dann nicht um eine seriöse Finanzierung der Krankenkassen sondern darum eine Wiederwahl zu sichern. Die Leute sollten wohl den Herrn Spahn dafür feiern, dass er die Krankenkassenbeiträge niedrig gehalten hat, wahrscheinlich wegen der Wirtschaftskompetenz, die man der CDU gerne zuschreiben soll.
Alter Tagesspiegel-Artikel
Der Tagesspiegel schrieb schon 27.11.2019:
Zur Finanzierung von Gesetzesvorhaben will Gesundheitsminister Jens Spahn dem Gesundheitsfonds in den nächsten fünf Jahren mehr als 5,2 Milliarden Euro entnehmen.
Und dann findet sich noch der Grund, warum Herr Spahn überhaupt Geld entnehmen möchte:
Das größte Loch in den Fonds reißt der versprochene Freibetrag für Betriebsrentner bei den Krankenkassenbeiträgen, den Spahn schon zum Jahreswechsel beschlossen haben will.
Aha, es geht also darum eine gewisse Gruppe Rentner zu entlasten. Rentner wählen ja hauptsächlich die CDU. Wahrscheinlich besonders gerne, wenn Renten erhöht und Belastungen gesenkt werden. Ob das langfristig alles finanzierbar ist, scheint da nicht so wichtig zu sein.
Es ist also letztlich etwas um bei den Wähler:innen beliebt zu sein.
Zurück zur Tagesschau
Von all diesen Dingen steht aber nichts im Artikel der Tagesschau. Sie liefert nicht den Kontext, den ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte. Denn so wirkt es nur so, als wäre halt wieder der medizinische Markt immer teurer geworden. Aber nein, es ist ein aus Parteiinteresse motiviertes Steuergeschenk an Wählerschichten seitens der CDU. Das ist durchaus eine Information, die für meine politische Willensbildung wichtig ist. Und jene zu unterstützen hat der ÖRR eigentlich als Aufgabe.
Das ist ein sehr konkretes Beispiel meiner Ernüchterung mit der Tagesschau. Bei anderen Dingen habe ich nicht so konkret recherchiert. In vielen anderen Fällen habe ich vor allem den Eindruck, dass nur irgendwelche Politikeraussagen zu Meldungen gemacht werden. »Merz beschimpft Scholz«, »Söder macht sich über Habeck lustig«, »Scholz rechnet mit Lindner ab«. Es wirkt so, als sei die Bundespolitik so eine Art High-School-Drama. Wer geht mit wem, wer hat wen ausgespannt, wer hat mit wem über wen geredet.
Aber Politik sollte eben nicht GZSZ oder Big Brother sein. Es sollten nicht einfach nur die Aussagen der Politiker:innen wiedergegeben werden. Wenn die Politik eine Bühne braucht, gibt sie eine Pressekonferenz. Wenn ich die rohen Aussagen haben will, kann ich die Bundespressekonferenzen schauen. Meine Erwartung an Journalismus ist das Einordnen und Erklären. Nicht nur das Wiedergeben. Und in dieser Hinsicht verliere ich wirklich die Lust die Tagesschau zu lesen.
Nachtrag vom 04.01.2025 12:46 Uhr
Ich hatte den Artikel heute morgen veröffentlicht, auf Mastodon wurde wild diskutiert. Jemand kommentierte, dass diese Art Informationen in anderen Artikeln stehen und teilte einen Link. Tatsächlich steht der Verweis auf TK-Chef Baas und Bundesgesundheitsminister Spahn in diesem WDR-Artikel, der im Regionalteil erschienen ist.
Die Information ist also schon irgendwo in der ARD vorhanden, aber in dem Artikel, auf den ich über die Startseite gekommen bin, stand dieser Kontext nicht drin.
Der Titel des Artikels ist auch etwas merkwürdig:
Zusatzbeiträge steigen: So kann ich bei der Krankenkasse sparen
Da hätte ich nicht erwartet, dass dort der Hintergrund steht.
Insgesamt bleibe ich aber bei meiner Kritik. Ich habe den Artikel gelesen, der auf der Startseite stand. Dort hätte ich mir den Kontext gewünscht. Ich hätte nicht erwartet den Regionalteil aus NRW lesen zu müssen, um das zu erfahren. Zumal ich auch nicht die Regionalteile aller Bundesländer lesen wollen würde.