Einzelfälle und Systematische Verbesserungen
In der Mathematik gibt es ein lustiges Konzept, »fast alle«. Das bedeutet »alle, bis auf endlich viele«. Endlich viele Elemente hat eine Menge, wenn man sie durchnummerieren kann und es dann eine feste Zahl gibt, sodass alle Nummern kleiner sind als diese Zahl. Viele Sätze zu unendlichen Mengen oder Folgen gelten dann, wenn eine bestimmte Bedingung für fast alle Elemente erfüllt ist. Das bedeutet aber auch, dass eine beliebig hohe, aber endliche, Zahl an Elementen diese Bedingung nicht erfüllen darf, ohne dass der Satz nicht mehr gilt.
Aber was hat das mit Straßenverkehr zu tun, wird man sich wahrscheinlich fragen. So funktioniert mein Kopf manchmal, es wird sich gleich fügen. Die Verfolgung von Verstößen im Straßenverkehr ist bestenfalls homöopathisch. Die meisten Gehwege sind zugeparkt, der Ordnungsdienst ist hier so gut wie nie zu sehen. Nun kann ich als Einzelperson anfangen jede Menge Privatanzeigen zu schicken. Damit erhöhe ich den Kontrolldruck hier im Quartier. Aber was bringt es denn im großen und ganzen? Nimmt man an, dass es unendlich viele Parkverstöße gibt, dann bringt eine egal wie große Menge verfolgter Einzelfälle nichts, die Verfolgungsquote ist weiterhin Null. Und egal, wie viele Privatanzeige ich schreibe (und mich dadurch selbst in Gefahr bringe), es ändert nichts.
Nun ist die Anzahl der Verstöße natürlich nicht unendlich, sondern eine hohe endliche Anzahl. Trotzdem fand ich die Annahme erstmal hilfreich. Denn wenn man eine Aussage widerlegen möchte, die für fast alle Elemente gilt, dann reicht es nicht, endlich viele Ausnahmen zu finden. Vielmehr muss man einen gewissen Teil von Unendlich als Ausnahme finden, damit man die Aussage widerlegen kann. Und so muss man auch bei der Verkehrswende Multiplikatoren finden, die einem helfen, dem Ziel näher zu kommen.
Das konkrete Ziel sind Gehwege, die frei von Autos sind. Ohne Kontrolldruck geht es anscheinend nicht, Führerschein und Kennzeichen reichen nicht aus, damit die Leute sich legal verhalten. Das Ordnungsamt ist nicht vor Ort, also muss man irgendwas tun. Und in Bonn haben wir nun endlich eine Fahrradstaffel für das Ordnungsamt. Das war viel Arbeit seitens Politik, Verwaltung, Ermahnungen seitens den Aktiven vom Radentscheid, und wohl noch vielen Parteien mehr. Das legalisierte Gehwegparken, das vor Jahren noch frech rechtswidrig angeordnet worden ist wird nun zurückgenommen. Und zwar nicht nur bei jeder Straße, wo jemand mit einer Klage droht, sondern en masse. Darüber hinaus sollen die Mitarbeiter*innen der Verkehrslenkung bei Außenterminen eventuelle Anordnungen auch prüfen, ob noch genug Gehweg vorhanden ist.
Durch systematische Arbeit an den zuständigen Stellen, die Verhaltensmuster und Strukturen zu ändern, haben wir viel mehr erreicht, als einzelne aktive Personen hätten erreichen können. Die Verkehrswende ist ein Strukturwandel, der nur mit einem Strukturwandel in der Verwaltung und den Ordnungsbehörden klappen kann. Es dauert allerdings viel länger, bis Resultate erkennbar werden. Einen Gehweg von Autos zu befreien geht in Monaten, aber das keinerlei Übertrag auf die nächste Ecke. Die Änderungen beim Ordnungsdienst hingegen haben Übertrag auf die ganze Stadt. Das ist ein mächtiger Multiplikator.
Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Auf Twitter gibt die Abschleppgruppe, das Original aus Berlin und weitere Gruppen in Frankfurt am Main und anderen Städten. Die erstellen keine Privatanzeigen, sondern tragen die Polizei (oder Ordnungsamt oder Verkehrspolizei) zum Jagen. Sie nehmen sich anhand von Einzelfällen die Behörden vor, schreiben Dienst- und Fachaufsichtsbeschwerden. Mit der Zeit arbeitet die Polizei dann von selbst ordentlich, und schleppt behindert geparkte Autos ab. Das ist zwar in jedem Einzelfall mehr Arbeit, hat aber großen Übertrag, der sich mit der Zeit akkumuliert.
Entsprechend langen Atem sollte man bei Aktivismus zur Verkehrswende mitbringen, wahrscheinlich in jedem Bereich der Politik. Aber gerade weil es langfristig ist, muss man strategisch vorgehen, und seine Kraft nicht im Kleinkram verlieren. Man muss also schauen, dass man nicht nur seine eigenen Kräfte investiert, sondern sie mit nutzt um andere Kräfte in die richtige Richtung zu leiten.
Für jene, die das mit den Unendlichkeiten interessant fanden, habe ich noch etwas lustiges, das Hilbert-Hotel. Wir haben ein Hotel, das unendlich viele nummerierte Zimmer hat. Dort können unendlich viele Gäste unterkommen, jeder kann eine Nummer bekommen. Wenn unendlich viele Gäste gekommen sind, ist das Hotel voll. Jetzt kommt ein weiterer Gast. Was können wir machen? Ganz einfach: Jeder Gast zieht ein Zimmer weiter. Und schon ist Zimmer 1 frei für den neuen Gast. Dies können wir beliebig oft wiederholen. Für jeden einzelnen neuen Gast geht das.
Aber was passiert, wenn jetzt nochmal unendlich viele Gäste kommen? Dann geht das weiterrücken nicht so, weil dann ja jeder Gast unendlich weit rücken muss und unklar ist, welche Zimmernummer er bekommt. Die Gäste müssen schon eine Nummer bekommen. Aber man kann es lösen: Jeder Gast im Hotel begibt sich in das Zimmer mit der doppelten Zimmernummer. So werden auf einen Schlag alle Zimmer mit ungerader Nummer frei. Dort können die neuen Gäste einquartiert werden. Man hat effektiv das Hotel verdoppelt, gibt es doch unendlich viele gerade und ungerade Zahlen.
Diese Art von Unendlichkeit nennt man abzählbar, weil man jedem Gast noch eine Nummer geben kann. Die Zahlen, die wir normalerweise nutzen, sind die reellen Zahlen. Diese sind überabzählbar. Das ist dann ein Unendlichkeitsbegriff, der Größer ist als die Unendlichkeit, die wir durchzählen können. Witzigerweise kann man von einer überabzählbar unendlichen Menge eine abzählbar unendliche Menge entfernen, und hat das gleiche Prinzip wie bei dem eingangs erwähnten fast alle. Aber das hat mit der in der Regel quantisierten Realität keine mir bekannten anschaulichen Berührungspunkte.