Chaos mit Papierakten im Zivildienst (2010)

Meinen Zivildienst habe ich damals in einer Klinik geleistet. Das war schon eine interessante Erfahrung für grob 1,30 EUR/Stunde pro Tag acht Stunden herumsitzen zu müssen und wenig sinnvolles tun können. Denn als Zivi hatte ich keine medizinische Ausbildung, durfte auch nichts machen, bekam keinen Account für das Computersystem. Was ich bedienen konnte, waren die Papierakten.

2010, die älteren werden sich erinnern, war eine Zeit in der es schon möglich war Dokumente digital zu speichern. Kalender konnten auf Smartphones synchronisiert werden, es gab Android in Version 2. Und die Klinik hatte natürlich auch ein Computersystem zur Verwaltung von Patientendaten. Dort enthalten war ein Kalender. Und zwar war jedem Termin sowohl der Patient als auch die Abteilung zugeordnet. So konnte man einfach den Tagesplan pro Abteilung und Arzt sehen, aber auch die nächsten Termine für einen Patienten anschauen. Je nach Freigabe konnte man sogar sehen, wo die Person demnächst in anderen Abteilungen Termine hat.

Das hatte in meiner Abteilung nur keiner genutzt. Der eine Arzt fand es unpraktisch, weil er es nicht mit seinem Telefon synchronisieren konnte. Er hat den Kalender für seine Patienten dann auf seinem Computer geführt und jeden Morgen den Tag ausgedruckt und ins Vorzimmer gegeben. Leider wurde ich aus »Frau Müller« nicht ganz schlau, schließlich gab es in der Abteilung drei davon. Und weil es nicht mit dem Computersystem verknüpft war, konnte man auch nicht die zugehörige Akte aufrufen. Und dann?

Mein Job war recht schnell das Suchen der Papierakten. Die Akten standen in Schränken bei dem Ärzt*innen, ich musste dann teilweise während der Behandlung in die Sprechzimmer und Akten aus dem Regal holen. Bei Frau Müller habe ich dann alle Akten zum Namen Müller geholt. Die Akten habe ich im Vorzimmer dann durchgeschaut. Auf der Gesprächsnotiz während der Sprechstunde hatte er immer den nächsten Termin vermerkt. Die Akte von der Frau Müller, die einen Termin für den Tag eingetragen hat, war die richtige Akte. Ein weiteres Indiz war die Telefonnummer, die auch im Kalender stand. Aber auch dafür brauchte ich die Akten.

Manchmal waren Patient*innen sehr lange nicht da, ihre Akten aus Platzgründen ins Archiv bewegt worden. Dass merkte man aber erst, wenn man nach intensiver Suche die Akte nicht im Sprechzimmer gefunden hatte. Oder im Vorzimmer, oder bei der Sekretärin. Und manchmal waren die Akten auch in anderen Abteilungen verliehen. Einzelne Akten wurden als verschollen deklariert.

Das Archiv bot auch noch weiteren Spaß. Wenn Akten zu dick geworden sind, mussten sie geteilt werden. Die neusten Inhalte kamen in die neue Akte, der Großteil blieb in der alten Akte. Damit war es aber nicht getan. Schließlich fehlt Kontext, wenn man nur die neue Akte hat und die alte Akte im Archiv ist. Ich wurde also angehalten die wichtigsten Dokumente zu kopieren und in die neue Akte zu heften. Das führte dann aber dazu, dass die neue Akte schon wieder so dick war, dass man sich gefragt hat, warum man die Akte eigentlich gespalten hatte. Wirklich sinnvoll erschien mir das nicht, weil die ganzen Arztbriefe im Computersystem verfügbar waren.

Die andere Herausforderung bestand darin die alten Akten als solche zu erkennen. Teilweise habe ich Akten aus dem Archiv geholt und als Kontext noch beigelegt. Die sind dann aber auf den ganz normalen Stapel mit genutzten Akten gelegt worden. Somit haben manche Leute einfach neue Dinge in die alte Akte geheftet, die Inhalte fehlten natürlich in der neuen Akte. So schien es, dass neue Unterlagen verloren gehen, dabei waren sie nur in der alten Akte. Eine meiner Prozessoptimierungen war nach Aktenteilung einen Einleger mit »Stop! Alte Akte, nichts einheften.« einzuheften. Damit war das Problem größtenteils gelöst. Außer die eine Sprechstundenhilfe, die aus schierer Verzweiflung wegen einer unauffindbaren Akte die Unterlagen dann in die alte geheftet hatte. Die waren dann immerhin zu einer Person zugeordnet, aber effektiv am Ende auch unsichtbar.

Wenn die Patient*innen da waren, wurden ihre Akten im Vorzimmer gestapelt. Man musste dann nicht, zu welchem Arzt oder Ärztin sie gehören, aber das konnte man ja einfach in jeder Akte nachschauen. Anhand der Unterschrift auf der Gesprächsnotiz konnte man das herausfinden. Also natürlich erst, nachdem man die Arztautogramme unterscheiden konnte, lesen kann man die nicht.

Bei vielen Patient*innen wurde nach der Sprechstunde im Vorzimmer noch Blut abgenommen. Dazu wurde ein Zettel angekreuzt mit den zu extrahierenden Blutwerten, die Sprechstundenhilfe hat das Blut abgenommen und alles fertig gemacht. Am nächsten Tag waren die Laborwerte da. Und in vielen anderen Abteilungen hat man einfach im Computersystem nach dem Blutwerten geschaut. Aber in meiner Abteilung ging das nicht. Deshalb hat das Labor die Ergebnisse von allen Patient*innen immer noch einmal per Fax in das Vorzimmer gefaxt. Wenn man dann morgens ankam, war da ein großer Stapel Papier drin. Und oh, man durfte natürlich nie vergessen das Papier dort nachzufüllen, sonst bekam man keine Laborwerte. Diese Papiere hatten dann die Namen der Person drauf, aber nicht die des Arztes oder der Ärztin. Man musste nun herausfinden, wohin die gehören, damit man die Ausdrucke in die richtigen Fächer legen konnte. Aber wie findet man das heraus? Man kann am Computersystem nach dem Namen suchen und die Akte öffnen. Dann schaut man die Dokumente in der Akte durch, bis man einen Arztbrief findet. Und da schaut man, wer den unterschrieben hat. Und dann hat man die Arzt*in. Dieser Prozess dauert natürlich mehrere Minuten, sodass man dann schon eine Viertelstunde damit beschäftigt sein konnte.

Die Ärzt*innen haben aus ihren Fächern die Blutwerte durchgeschaut und nach Auffälligkeiten gesucht. Manchmal kamen die dann mit einem der Zettel rein und fragten nach der Akte. Aber wo war die? Häufig lag sie auf dem Stapel der Akten von den Patienten, die am Vortag da waren. Dann hat die Ärzt*in auf die Akte geschaut, und entschieden ob die Patient*in angerufen werden muss, um zum Beispiel die Medikation zu verändern.

Waren alle Laborwerte durchgeschaut, bekam man den Stapel wieder zurück und musste sie in die dazugehörigen Akten einheften. Das haben wir immer nachmittags gemacht, weil da sehr wenige Patient*innen mehr da waren. Immerhin waren die Laborberichte schon nach Ärzt*in sortiert. Allerdings waren die Akten alle im Vorzimmer. Manchmal waren sie aber auch schon wieder im Regal einsortiert. Und dann gab es noch jene Akten, bei denen der Arzt diktiert hatte. Er hat das auf ein Tonband gemacht, das er mit einem speziellen Plastikclip an die Akte gehängt hatte. Die Akten mit Tonband stellte er dann in ein spezielles Fach. Morgens früh holte sich seine Sekretärin die Akten ab und tippte die ganzen Diktate ab. Nicht alles wurde am gleichen Tag fertig und kam wieder zurück ins Arztzimmer. Die Dame war allerdings nur halbtags da, somit war ihr Büro dann verschlossen. Ich hatte aber keinen Schlüssel dafür, und der Arzt auch nicht. Ich musste dann immer zur Chefsekretärin gehen und den Generalschlüssel ausleihen. Beim ersten Mal war sie ganz verständnisvoll für den neuen Zivi. Beim zweiten Mal war sie schon etwas irritiert. Ab dem dritten Mal in wenigen Wochen bekam ich dann einen Blick zugeworfen, in dem Frustration mit der mangelnden Organisation meiner Abteilung zu lesen war. Ich antwortete mit einem »kann ich auch nicht ändern«-Blick, und so machten wir das ein- bis zweimal die Woche. Man hätte das ganze bestimmt anders organisieren können, aber da ich den Quatsch ja effektiv absorbiert hatte, gab es nicht genug Leidensdruck für Veränderungen.

Die Akten wurden auch noch unterschieden zwischen gesetzlich und privat versicherten Personen. Während erstere Akten unansehnliche Einschläge waren, wurden die Privatakten als schicke Hängeakten geführt. Für mich als computerbegeisterte Person, die schon Jahre vorher Web-Anwendungen mit dahinterliegender Datenbank entwickelt hatte, war dieser Anblick auf so eine verstörende Weise faszinierend:

Die Akten waren durchnummeriert, sodass man keine Akten in der Mitte einfügen musste. Es gab dann noch einen Index, in dem man die Nummer einer Akte anhand des Namens nachschlagen konnte. Konkret waren das Karteikästen, in denen pro Akte eine Karteikarte mit Nummer drin war. Sortiert war das nach Nachname, Vorname, Geburtsdatum und so weiter:

Ich meine, dass ich irgendwann mal so eine Box versehentlich ausgekippt hatte, weil ich über irgendwas gestolpert bin. Oder ich hatte nur ziemliche Angst davor, dass das passiert und ich den Kram wieder sortieren muss. In jedem Fall nichts, was man wirklich machen möchte.

Häufig hatte ich versucht Werbung für das Computersystem zu machen. Aber das wurde alles als umständlich abgetan, und es würde so doch viel besser funktionieren. Klar, wenn man zwei Sprechstundenhilfen und einen Zivildienst für drei Ärzt*innen hat, die sich um die ganzen Akten kümmern, dann scheint das aus Arztsicht gut zu laufen. Immerhin konnte ich die eine Ärztin, die nach längerer Abwesenheit zurückkam, vom elektronischen Kalender überzeugen. Bevor ich das erste Mal mit ihr zu tun hatte, höre ich nur Erzählungen von einer strengen Person, die immer so viel Arbeit macht. Als ich mit ihr dann aber den Kalender im Computersystem besprochen hatte, schaute sie sich das noch selbst an, war kurz darauf überzeugt und legte fest, dass ihre Termine nun nur noch so angelegt werden. Ich fand es großartig, die beiden Sprechstundenhilfen stöhnten nur. Ich konnte mir vorstellen, wie da die Dynamik vorher schon war.

Ich war sehr froh, als ich nach sechs Monaten mit dem Zivildienst fertig war. Es war unerträglich so viel ineffizienten Papierkram zu sehen, Prozesse mit eingebautem Chaos und dieser Beschäftigungstherapie. Irgendwo hat diese Zeit mir einen gewissen Langmut mit derartigen Systemen verschafft. Nun kann ich es etwas besser ertragen, wenn ich so etwas irgendwo sehe und freue mich, dass ich das nicht jeden Tag ausbaden muss. Soweit ich das mitbekommen habe, wurden die Abteilungen in der Klinik neu sortiert, die Ärzt*innen haben die Kliniken gewechselt oder sich in Praxen niedergelassen. Wahrscheinlich war die Papierflut bis zum Ende so wie zu meiner Zeit dort.