Bremsbereites Draufhalten

Als Oberstufenschüler war ich angehender Erstwähler und interessierte mich besonders für die Abschaffung des Wehrdienstes. Ich schaute mir da Interviews mit den Parteien an und auch eines von einer Schülerreporterin mit Guido Westerwelle von der FDP. In dem Interview gab es einen Moment, in dem die Reporterin Westerwelle ins Wort fällt, er ihr das aber gar nicht übel nimmt und sie die Frage in Ruhe stellen lässt. Sie ist etwas nervös, weil sie ihm gerade ins Wort gefallen ist. Er wirkt hingegen sehr freundlich, weil er sie gewähren lässt.

Zumindest war das meine naive Interpretation davon. Mein Vater, Fernsehprofi, erklärte mir den Trick dahinter: Herr Westerwelle war natürlich absolut routiniert in derartigen Interviews. Und so hat er die Reporterin absichtlich dahin gelockt, dass sie ihm ins Wort fällt. Daraufhin konnte er sich als großzügig positionieren und sie ein klein bisschen schlechter darstehen lassen. Sie würde etwas nervöser werden und eventuell nicht mehr kritisch nachfragen, weil sie nicht direkt wieder negativ auffallen wollte.

Ich habe das damals nicht direkt verstanden und bin total auf diesen rhetorischen Trick reingefallen. Er lässt der anderen Person das Gefühl eines Fehlverhaltens geben, ohne dass diese wirklich das Fehlverhalten gezeigt hatte. In seiner Ausführung geht der Trick so, dass man so tut, als wollte man nichts sagen, wartet bis die andere Person gerade ansetzt und dann unvermittelt selbst anfängt etwas zu sagen. Man kommuniziert »untelegrafiert«, also ohne Vorbewegung oder Einleitung. Das führt zu Konflikten.

Im Straßenverkehr gibt es den Effekt auch. Wenn bei einer Situation die Personen nicht wissen was zu tun ist, dann versuchen sie zu verstehen, was die andere Person macht. Man nehme eine unklare Vorfahrtssituation als Beispiel. »Haben Fußgänger*innen an einer Verkehrsinsel ein Vorrecht?«, mag man sich jemand im Auto fragen. Und so verzögert die Person im Auto angesichts der Person am Fahrbahnrand. Die Person am Fahrbahnrand ist sich nicht sicher, und bleibt erstmal stehen. Die Person im Auto nimmt an, dass die Person am Fahrbahnrand bleibt, weil sie ja auch langsamer wurde. Die Person zu Fuß nimmt aber vielleicht auch an, dass das Auto angehalten wird. Im letzten Moment tritt die Person auf die Fahrbahn, die Person im Auto ist trotz Skepsis überrascht.

Bei einem Fußgängerüberweg (Zebrastreifen) ist es klar geregelt, dass die Fußgänger*innen Vorrang haben. Ist man hier zu Fuß aber zu zögerlich, halten die Leute im Auto aber nicht. Man muss also schon klar zu erkennen geben, dass man queren möchte und auch wird. Gleichzeitig muss man sich aber auch vor jenen Autofahrer*innen schützen, die böswillig oder fahrlässig nicht halten. Blind auf die den Fußgängerüberweg treten ist zwar letztlich erlaubt, aber leider auch nicht clever.

Man kann zwar relativ leicht die Kraftfahrer*innen ins Unrecht setzen, indem man am Fußgängerüberweg herumlungert, nicht quert, und es sich im letzten Augenblick anders überlegt. Aber das ist nicht sinnvoll und darum geht es mir auch nicht. Vielmehr geht es mir darum, dass man sich vorhersehbar verhält.

Die Tage hatte ich an einer Radfurt so einen Fall. Ich hatte klar Vorfahrt, die Frau im Auto hat mich aber erst zu spät gesehen. Das war klar ihre Schuld, ich habe Licht am Fahrrad und eine knallrote Jacke angehabt. Ich habe extra nicht erkennbar gebremst, darin bin ich inzwischen Profi. Ich bin genau so gefahren, dass ich zwar noch locker vor dem Auto anhalten könnte, aber bis zum letzten Moment die Geschwindigkeit nicht rausnehme. So kann niemand glauben, ich würde auf meine Vorfahrt verzichten wollen.

Und so habe ich die Frau dann zu einer Vollbremsung bekommen. Sie entschuldigte sich dann eifrig mit Gesten. Sie hat sich wohl auch ordentlich erschreckt, ich hatte die Situation aber für sie unter Kontrolle. Hoffentlich hat sie daraus gelernt und schaut beim nächsten Mal noch einmal mehr.

Generell bin ich mit dieser Strategie sehr gut gefahren bisher. In Situationen, bei denen ängstliche Radfahrer*innen dann geschnitten werden, traut man sich nicht mich zu schneiden. Auch mit dem Auto kann man das gut machen. So bin ich auch schon mit 200 km/h auf der Autobahn gefahren und habe nicht gebremst, auch wenn jemand auf dem mittleren Fahrstreifen dort ausgebremst worden ist. Sobald man selbst vom Gas geht, nickt das Auto leicht nach vorne, diese Bewegung kann man im Rückspiegel einfach erkennen. Die Person in der Mitte wird annehmen dass ich sie reinlasse und zieht dann vor mir rein. Und dann wird es brenzlig, weil die Geschwindigkeitsdifferenz so hoch ist. Hält man voll drauf, ziehen die Leute nicht raus, und es ist am Ende sicherer.

Gut, heutzutage fahre ich mit dem Auto einfach mit Tempomat so 100 bis 120 km/h auf dem rechten Fahrstreifen, freue mich über den Windschatten und niedrigen Verbrauch. Aber das ändert nichts daran, dass ein transparentes, authentisches und vor allem gradliniges Verhalten im Straßenverkehr es für alle einfacher macht. Das bedeutet nicht direkt Rücksichtslosigkeit. Verzichtet man auf Vorfahrt, muss man das nur früh genug und eindeutig zu erkennen geben.