Atomkraft und Kernkraft
Neulich hatte ich zur umgangssprachlich falschen Nutzung von »Quantensprung« geschrieben. Mit der Abschaltung der Kernkraftwerke las ich immer wieder von »Atomkraft«, was mich ähnlich stört.
Vielleicht direkt zu Anfang die Warnung: Ich bin Kernphysiker, und dann halt auch in vielen Bereichen eher pedantisch. Das spiegelt dann nicht unbedingt die Wahrnehmung der Sprache in der breiten Bevölkerung wider. Allerdings geht es bei der Kernkraft eben um Kernphysik, von daher kann ich da inhaltlich mitreden.
Die Materie um uns herum ist in eine Hierarchie unterteilt. Dass wir das überhaupt machen können, ist an sich schon bemerkenswert. Wir haben um uns herum Dinge, die aus Molekülen bestehen. Das sind Verbindungen von mehreren Atomen. Dann haben wir noch Metalle und Kristalle, die keine Moleküle in dem Sinne sind, sondern große Festkörper mit einer anderen Struktur. Es besteht aber alles am Ende aus Atomen.
Die Atome kann man sich in verschiedenen Bildern vorstellen. Das für die Überlegungen in diesem Artikel einfachste aber funktionierende Modell ist das einfache Bahnenmodell. Da haben wir einen positiv geladenen Atomkern in der Mitte und negativ geladene Elektronen auf Umlaufbahnen, ganz analog zum Planetenmodell. Das kann man sich ungefähr so vorstellen:
Das Innenleben des Kerns wird hier komplett ignoriert, es ist einfach eine positiv geladene Masse in der Mitte. Die Elektronen umkreisen diesen Kern auf Kreisbahnen, zwischen denen sie wechseln können. Bei diesem Wechsel strahlen sie elektromagnetische Strahlung aus, die im sichtbaren Bereich liegen kann. Es kann aber alles zwischen Röntgenstrahlung, UV-Licht, sichtbarem Licht und Wärmestrahlung abgegeben werden. Genauso können Elektronen durch diese verschiedenen Arten von Licht angeregt werden. Hier habe ich einmal schematisch diesen Übergang eines Elektrons unter Emission eines Photons (Lichtteilchen) gezeichnet:
Das, was da in der Elektronenhülle vor sich geht, ist das Gebiet der Atomphysik. Hier entsteht das sichtbare Licht, Röntgenstrahlung. Elektrische Leitung von Strom wird durch die Elektronen in der Hülle ermöglicht. Und die ganze Chemie spielt sich in der äußersten Schicht der Elektronenhülle ab.
Die nächste Vergrößerungsstufe in der Hierarchie der Materie ist dann eben jener Teil der Physik, die sich den Atomkern anschaut. Da ist der Kern nicht mehr einfach nur eine positiv geladene Kugel, sondern ihre Struktur wird betrachtet. So besteht ein Atomkern aus elektrisch neutralen Neutronen und positiv geladenen Positronen. Die haben keine Farbe im klassischen Sinne, ich habe sie zum Zeichnen aber mal heller und dunkler gemalt.
Diese Kerne haben nun ein Eigenleben. Aufgrund der enomen Massenunterschiede (ein Proton oder Neutron wiegt ungefähr 2000 mal so viel wie ein Elektron) ist für die Dynamik des Kernes die Elektronenhülle unerheblich. In der Kernphysik behandelt man daher nur die Atomkerne und ignoriert den Rest.
Nun ist das, was im Kernkraftwerk genutzt wird, ein Prozess rein im Atomkern. Ein großer Kern wie Uran 235, der aus 235 Protonen und Neutronen besteht, ist nicht sonderlich stabil. Man kann sich die (residuelle) starke Kernkraft, die diesen Kern zusammenhält, wie Klett an den Kugeln vorstellen. Man denke an dieses Strand-Tennis mit den Klettbällen. Wenn man diese Bälle mit Klett aneinander packt, dann halten zwei Kugeln ziemlich gut aneinander. Drei gehen auch noch. Aber wenn man 10 Kugeln zusammenpackt, bekommt man schon eine instabile Konstellation. Bei 235 Klettbällen wird es dann aber instabil, das ganze kann auseinanderbrechen. Und einzelne Klettbälle werden herunterfallen. So ähnlich passiert das im Kernkraftwerk auch, wenn das radioaktive Uran zerfällt:
Der Kern bricht auseinander, es entstehen einzelne freie Neutronen, die sich dann schnell durch was Wasserbecken bewegen. Dabei kann auch noch Gammastrahlung freiwerden, das ist elektromagnetische Strahlung mit Wellenlängen noch kürzer als die Röntgenstrahlung. Effektiv wird eine enorme Menge Energie freigesetzt, mit der dann das Wasser geheizt wird und per Dampfmaschine dann in Strom umgewandelt wird.
Weil der Kern so viel mehr Masse auf kleinstem Raum konzentriert, sind die involvierten Energien bei den Reaktionen im Kern viel größer als in der Elektronenhülle. Die Aktivierungsenergien in der Elektronenhülle sind in der Größenordnung 10 eV (Elektronenvolt) beim Leuchten des Wasserstoffatoms. Bei Röntenstrahlen können es vielleicht 1000 eV (oder auch keV geschrieben) werden. Chemische Reaktionen sind in der Größenordnung 1 eV oder gar 0,1 eV. Die Reaktionen im Atomkern gingegen sind in der Größenordnung MeV, also 1.000.000 eV. Das ist eine ganz andere Liga.
Und nun zum eigentlichen Punkt: Das, was da in einem Kernkraftwerk genutzt wird, ist die »Kraft der Kerne«, die aus den Atomkernen kommt, die Kernkraft eben. Es gibt zwei Kernkräfte, die starke und die schwache. Beide sorgen auf ihre Art für die Energie in einem Kernkraftwerk, sie greifen in unterschiedlichen Abschnitten des Reaktionsprozesses in den Brennstäben.
»Atomenergie« ist für mich ein merkwürdiger Begriff. Energie, die in Atomen steckt, muss also irgendwie die Elektronenhülle umschließen. Damit sind wir aber im Bereich von viel geringeren Energien, letztlich chemischen Energieskalen. Ein ganz normaler Verbrennungsprozess ist für mich Molekülenergie, bei der eben Atome involviert sind. Einzelne Atome sind in der Chemie aber nicht interessant, es geht ja um die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Atomen. Und das, was in der Atomphysik passiert, ist interessant; dort gibt es Laser, Röntenstrahlung und diverse Dinge. Allerdings ist das keine Grundlage für eine Kraftwerksart.
Natürlich nutzt ein Kernkraftwerk Atome, von daher ist es vielleicht auch ein »Atomkraftwerk«. Ein Kohle- oder Gaskraftwerk nutzt aber Moleküle, die auch aus Atomen bestehen. Somit sind die genauso »Atomkraftwerke«. Die Bezeichnung ergibt einfach keinen Sinn, wenn man sie wirklich beim Wort nimmt.
Ob man das ganze jetzt Kernkraft oder »Atomkraft« nennt, ist für die Debatte um Nutzen, Kosten und Risiken natürlich egal. Hier halte ich das Risiko für klein, dass unpräzise Sprache zu Unklarheiten oder falschen Vorstellungen führt. Es ist einfach nur eine Kleinigkeit, die mich aber immer wieder ein bisschen irritiert. Wie die Wörter »Schraubenzieher« oder »Imbusschlüssel« eben.