Abkopplung im Auto

Gerade lese ich Curbing Traffic (Details am Ende), ein Buch von einer Kanadischen Familie, die nach Delft gezogen sind. Dort erleben sie Verkehrs und den öffentlichen Raum nochmal komplett neu. Besonders viel Resonanz verspürte ich mit einem Aspekt, nämlich dem Vertrauen in die Gesellschaft. Dafür muss ich etwas ausholen.

Die Autoren beschreiben, wie verdutzt sie an einer großen Kreuzung vor der TU Delft waren. Dort gibt es keine Ampeln obwohl dort jeden Tag tausende Radfahrende vorbeikommen. Wie kann es sein, dass das trotzdem klappt? Und als sie selbst mit dem Fahrrad dort entlang gefahren sind, waren sie zuerst etwas überfordert. Schnell lernten sie jedoch mit den anderen Radfahrenden Blickkontakt herzustellen, über kleine Gesten ihre Absichten zu kommunizieren. Signale wie die Nutzung der Rücktrittbremse kann man erkennen lernen. Mit der Zeit empfanden sie die morgendlichen Radfahrten als orchestrierten Tanz, mit einem Gefühl von Vertrauen und Gemeinschaft.

Fährt man mit dem Auto, ist das anders. Man kann nicht mit anderen Autofahrern kommunizieren. Das einzige was man hat sind Blinker, Bremsleuchten, Fernlicht und die Hupe. In Virus Auto beschreibt der Wiener Verkehrsprofessor Knoflacher dies als das »Kommunikationsrepertoire von Insekten«. Die höheren Geschwindigkeiten machen es darüber hinaus unmöglich noch Blickkontakt aufzunehmen. Zu schnell sind entgegenkommende Autofahrer an einem vorbei.

Unter Zufußgehenden und langsam Radfahrenden kann sich noch auf natürliche Weise eine Absprache gefunden werden. Die Geschwindigkeiten sind langsam genug, sodass man sich in Echtzeit koordinieren kann. Mit einer Vielzahl solcher Begegnungen stimmt man sich auf die Zeichen ab, es entsteht ein Vertrauen der Verkehrsteilnehmer. Und sollte mal eine Absprache daneben gehen, so lassen sich Zusammenstöße meist trotzdem noch vermeiden. Selbst ein Zusammenstoß endet meist nicht tödlich, man kann teilweise wieder aufstehen, sich entschuldigen und weiterfahren.

Dies klappt unter Autofahrenden nicht wirklich. Rechts-vor-Links ist schon schwer genug, bei höheren Geschwindigkeiten helfen nur Ampelanlagen. Und diese sind auch dazu da, dass man Absprachen findet. Allerdings stimmen sich die Autofahrenden nicht mehr untereinander ab, vielmehr bekommen sie von außen durch eine externe Autorität gesagt, wie sie sich zu verhalten haben. Es ist also kein Miteinander, es ist ein anonymes Nebeneinander. Die erlebten Verkehrssituationen stärken auch kein Vertrauen in die anderen Menschen. Den Autofahrenden fehlt auch die Übung in diesen Abstimmungen untereinander. Das kann man in den seltenen Fällen einer Signalstörung gut beobachten. Dann sind die meisten verwirrt, fahren vorsichtig und nicht vorhersehbar.

Das Auto braucht viel Platz, in Bewegung und in Ruhe. Dadurch müssen breite Fahrbahnen und große Parkplätze gebaut werden. Ein eigener Parkplatz auf dem Grundstück macht es deutlich einfacher, als wenn man irgendwo auf der Fahrbahn parken muss. Und ein Auto kapselt einen auch von den anderen Leuten ab, analog zu einem Einfamilienhaus ohne Nachbarn. Man hat in beiden Situationen nicht mehr die Not sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Und ich glaube, dass dadurch auch der Umgang verroht. Die Übung fehlt.

Es gibt genug Egoisten, die nicht bereit sind, auf andere Rücksicht zu nehmen. Sie gehen bis an das Maximum, das rechtlich noch erlaubt ist. Beim Gehwegparken sogar noch darüber hinaus. Und weil das Auto die Abgrenzung zur Gesellschaft so gut umsetzt, kann man diese Leute auch nicht mehr darauf ansprechen. Über das Ordnungsamt bekommt man sie noch, das ist dann eine externe Autorität wie eine Ampel.

Meine Perspektive ist sicher schon ziemlich festgefahren, jedoch erscheint mir das Auto und die Verkehrspolitik für das Auto nicht nur an Lärm, Flächenfraß und Zersiedelung verantwortlich zu sein. Ich sehe auch noch einen gewissen Anteil an einer immer zurückgezogeneren Gesellschaft, Bildung von Blasen und Kritikunfähigkeit.

Referenzen

  • Chris Bruntlett, Melissa Bruntlett. Curbing Traffic: The Human Case for Fewer Cars in our Lives (2021)
  • Hermann Knoflacher. Virus Auto: Die Geschichte einer Zerstörung (2009)
  • Leslie Kern. Feminist City (2019)